Wie überall haben sich die uralten Sagenbilder mit der Zeit verändert. Einen großen Einfluss übte in den letzten Jahrhunderten das Christentum aus, das als neue Religion nach Litauen kam und das sich in der Darstellung von Hexe, Zauberer, Totengeist, aitvaras und teilweise laume widerspiegelt. So wurden Wahrsager, Heiler, Hexen und Zauberer zu Feinden des Menschen, die alle Arten von Übeln verbreiteten und mit dem Teufel im Bunde standen. Dem Wassergeist laume wurden uncharakteristische, schädliche Handlungen zugeschrieben, wie das Suchen nach Schafen oder das Reiten. Die Bilder von aitvaras und velnias vermischten sich.

Dennoch blieb der christliche Einfluss oberflächlich und konnte die traditionelle Weltsicht der Litauer nicht ablösen. Dies zeigt die bekannteste mythische Figur, velnias, die aus einem uralten Totenkult entstand. Der velnias unterscheidet sich in Aussehen, Auftreten und Funktion grundlegend vom Teufel des Christentums – so sehr, dass man im Mittelalter von der Kirche als Ketzer verbrannt worden wäre, hätte man die beiden einander gleichgesetzt.

Auch auf den Inhalt der Sagen selbst hatte das Christentum keinen großen Einfluss. Die im Mittelalter gepredigten Tugenden wie Entsagung, Demut, Selbstverleugnung und Unterwerfung unter den Willen Gottes sind nirgends zu finden. Ganz im Gegenteil: Es sind der Optimismus, die Schlauheit und die Tüchtigkeit des Einzelnen, die herausgestellt werden, ebenso wie die ethischen und moralischen Werte, die sich im Volk über Tausende von Jahren entwickelt hatten. Und obwohl die Kernfiguren der Sagen vor der Gesellschaftsordnung geformt wurden, geht es in den Inhalten auch um die sozialen Gegenpole der landwirtschaftlichen Bevölkerung in späterer Zeit. Ganz eindeutig werden gierige Großgrundbesitzer („Die vom Herrn gezogene Kutsche“, „Die Pferde des velnias“, „Die Pferde des Herrn“), windige Bauern („Der kleine Karpfen“, „Der ärgerliche aitvaras“, „Der erschlagene aitvaras“) und eifersüchtige Bauersfrauen „Laumes und das Baby“) abgemahnt, während arme, aber schlaue und ehrliche Bauern, Schäfer und Dienstleute ihre Belohnung bekommen.

Noch heute lassen sich Leser von den überraschenden Bildern, dem Ideenreichtum und den Werten der litauischen Sagen bezaubern. Manche Bilder und Charaktere fanden sogar Eingang in neue Werke, wie bei den Schriftstellern K. Donelaitis, S. Stanevicius und M. Valancius und zahlreichen zeitgenössischen Dichtern und Autoren.

Bis vor Kurzem wurden litauische Sagen meist in einem Werk zusammen mit Märchen publiziert, da es angeblich weniger von ihnen gab. Die neueste Publikation weist eine größere Anzahl aus vorher unveröffentlichten Quellen auf. Obwohl es sich dabei immer noch um nur etwa ein Zehntel aller bekannten Sagen handelt, zeigen sie zumindest Vielfalt und Reichtum der litauischen Sagenwelt. Die Sammlung umfasst Geschichten über sogenannte Hausgeister (kaukas, aitvaras und puscius, die alle für Wohlstand verantwortlich waren), über Naturgeister (laume, Perkunas, Meerjungfrauen und See- und Flussgeister), über Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten (Hexe, Zauberer, Werwolf, Seher), über ungewöhnliche Tiere (Grasschlange, Schlangenkönig, Wolf, Storch und Schwalbe) über Wesen, die das Schicksal der Menschen beeinflussen (laime, Göttinnen der Seuche, giltine) und über Totengeister, velnias und verhexte Schatzwächter.

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