Die Erschaffung der Welt

In litauischen Schöpfungssagen war am Anfang der Welt nur Wasser, auf dem Dievas wandelte. In manchen Versionen erschuf er zuerst Velnias (der auch Liucius genannt wird) indem er ausspuckte oder zwei Steine aneinander rieb und Liucius aus den Funken entstand. In andere Versionen existieren beide Gottheiten von Anfang an. Velnias taucht dann auf Gottes Geheiß ins Wasser und bringt Lehm, Ton und Sand mit nach oben (in einer sehr alten Version tut dies statt Velnias eine Ente), doch einen Teil davon versteckt er in seinem Mund. Dievas nimmt den Lehm und legt ihn aufs Wasser, er breitet sich aus und formt sich zu einer Insel. Auch der Lehm in Velnias Mund dehnt sich aus, sodass er ihn ausspucken muss – auf diese Weise entstehen die unebenen Oberflächen, Seen, Steine u.a., während Dievas die Erde flach und eben geplant hatte.

Als sich Dievas zum Schlafen legt, zieht Velnias ihn an den Füßen zum Wasser, um ihn zu ertränken. Doch die Erde breitet sich immer weiter aus, sodass Velnias die Wasserlinie nie erreicht – so wird die erste Landfläche immer größer. Dievas lässt aus Funken Engel entstehen, Velnias weitere Teufel usw. Dieses Gegenspielermotiv zeigt, dass die Welt, wie wir sie kennen, das Produkt der (unfreiwilligen) Zusammenarbeit von Gott und Teufel ist.

Velnias

Wie schon im Kapitel Folklore beschrieben, wird Velnias als ein Gegenspieler des Schöpfergottes beschrieben, der von ihm entweder geschaffen wurde oder, in älteren Überlieferungen, sein jüngerer Bruder ist. Was immer Gott schafft, will der Velnias ihm nachmachen, doch es misslingt ihm meist, sodass das Nützliche und das weniger Nützliche gleichzeitig in die Welt kommen.

Velnias ist in der Unterwelt zu Hause, in einem Berg oder unter Wasser. Andererseits erscheint er auch in der Luft, kann fliegen und wird dann mit dem Sturm identifiziert. Auch hat er eine enge Beziehung zu Steinen (in der Folklore sät er sie oder versetzt sie) und zu einigen Bäumen wie der Birke und der Fichte (zum Beispiel versteckt er sich vor Perkūnas unter einer Fichte). Baumstümpfe und ausgehöhlte Bäume haben einen Bezug zu ihm, so sitzt er manchmal auf einem Baumstumpf und ist durch das Wurzelwerk mit der Unterwelt verbunden. Auch hat er Verbindung zur Tierwelt, vor allem zu Pferden und Rindern. In manchem Sagen besitzt er Rinderherden oder reitet auf Pferden, auch heißt es, dass er Pferde und Ziegen geschaffen hat. Von den Wildtieren stehen ihm der Wolf, das Kaninchen und der Bär besonders nahe, und er kann in jede dieser Gestalten schlüpfen.

Velnias erscheint oft unter Frauen (bei Dorffesten tanzt er mit den Mädchen oder er heiratet eine gehängte Frau und tanzt mit ihr) und ist generell an Hochzeiten und Beerdigungen interessiert. Manchmal erscheint er, um die Seele eines Toten zu holen, doch erst unter dem christlichen Glauben wird er der Herr der Hölle (pekla), wo er über die Toten herrscht, die in Tiergestalt hier leben, um ihre Sünden abzubüßen, bevor sie ins Paradies aufsteigen können.

Im Allgemeinen ist der Teufel den Menschen nah, man kann ihm leicht begegnen oder ihn rufen, aber er kommt auch ohne Einladung, zum Beispiel, wenn Menschen ripka oder andere Glücksspiele spielen. Er bietet Bauern seine Dienste an, rodet beispielsweise Baumstümpfe auf einem Feld. Der Teufel ist musikalisch – in vielen Geschichten geht er einen Vertrag mit einem Geiger ein („Teufelsgeiger“), er spielt auch selbst Instrumente und tanzt gern. In vorchristlicher Zeit war er noch kein dämonischer Höllenwärter, sondern ein Symbol des dualistischen Prinzips, das alles, was entsteht, auch vergehen muss. Daher stand er auch für Fruchtbarkeit und Ernte und wurde als Vermittler zwischen der Welt der Lebenden und der Toten angesehen. In dieser Funktion war er der Gott derjenigen, die mit beiden Welten in Berührung kamen, wie Priestern und Zauberern. Laut N. Velius gehörten dazu nach altem Glauben auch Musiker, Dichter und andere Künstler, die durch ihre kreative Inspiration mit der Unterwelt verbunden und dadurch dem Musik liebenden Teufel nahe waren.

Christlich geprägte Schöpfermythen

Die Charaktere aus dem Neuen Testament (Maria, Jesus und Petrus) sind jedenfalls jünger als die traditionellen Darstellungen von Gott und velnias. In einigen Sagen haben Maria und Jesus Gott ersetzt, während velnias Rolle von Petrus übernommen wurde, doch der Inhalt blieb relativ unverändert. So kommt es, dass Petrus kein positiver Charakter ist und den Narren gibt.

Einige Beispiele: Gott gab dem Mann Überlegenheit, doch Petrus wollte sie den Frauen zusprechen. So kam es, dass eine Frau ihn verprügelte und ihm die Haare ausriss, weshalb er jetzt eine Glatze hat.

Gott befahl Petrus, eine alte Frau und einen velnias zu trennen, die miteinander kämpften. Petrus schlug ihnen die Köpfe ab – und als er versuchte, sie wieder anzubringen, verwechselte er sie.

Gott befahl Petrus, den Menschen Regen zu bringen, wenn sie darum bitten, doch Petrus gab ihnen Regen während der Heuernte.

Als Ergebnis der Handlungen von Gott, velnias und den anderen Charakteren nimmt die Welt ihre heutige Form an, was am Ende immer erwähnt wird. „Seit dieser Zeit ist die Sonne nur noch tagsüber zu sehen und der Mond und die Sterne scheinen nachts.“ „Und so steht die Sonne bis heute am Himmel.“ „Und deshalb hat der Strandläufer heute keinen Schwanz, und die Bachstelze fliegt umher und präsentiert stolz ihre Schwanzfedern.“ Am Ende eines Schöpfungsmythos steht somit immer eine geordnete, vollständige Welt, auch wenn sie nicht im Detail beschrieben wird.

Andere mythische Schöpfer

Sagen mit Gott und velnias sind die beliebten „Klassiker“ unter den litauischen Schöpfungsmythen, es gibt jedoch auch welche, in denen personifizierte Himmelskörper (Sonne, Mond, Erde), Perkunas (der Donnergott und mystische Schmied), der Riese Spjudas, der erste Mensch Adam, Noah, Maria (die Gottesmutter), Jesus, die Heiligen, normale Menschen, wilde Tiere, Nutztiere, Vögel und Pflanzen vorkommen. Je nach Geschichte handeln sie bewusst und zielstrebig oder auch nicht.

Einige Beispiele: Perkunas sehnte sich nach Licht, verbrachte sechs Jahre damit, die Sonne zu schmieden, stieg auf das Dach des höchsten Hauses und warf sie an den Himmel.

Sonne und Mond lagen im Streit um die Erde, deshalb entschied Perkunas, dass die Sonne ihre Tochter Erde bei Tag beschützen solle und der Mond bei Nacht.

Um ein faules Pferd zu bestrafen, entschieden Maria und Jesus, dass es immer grasen und doch nie satt werden solle. Sie dankten dem Haselbusch, indem sie ihm herunterhängende Zweige schenkten, sie belohnten einen guten Bauern, indem sie seine Handschuhe in eine Katze verwandelte, die für ihn die Mäuse jagte.

Als Adam spazieren ging, entstanden aus seinen Fußstapfen Berge, doch wo er nicht hintrat, Sümpfe und unfruchtbares Land.

Als ein Band um ein Fass Noahs brach, verwandelte es sich in den Regenbogen.

Die Sonne fiel von einem Esel, versuchte sich an den Ohren festzuhalten und zog sie dabei lang, außerdem hinterließ sie einen Streifen auf seinem Rücken.

Da all diese Charaktere dieselbe Funktion erfüllen wie Gott und velnias, lässt sich ihre gemeinsame Abstammung leicht herleiten. Die personifizierten Himmelskörper, Perkunas, der Schmied, und der Riese Spjudas gehören alle zu einer frühen Periode der Mythologie, die vom Christentum nicht berührt wurde. Sie sind damit möglicherweise noch älter als die Sagen mit Gott und velnias. Allerdings gibt es nur sehr wenige Aufzeichnungen dieser vereinzelten archaischen Mythen, und ihre Authentizität ist nicht belegt. Möglicherweise wurden sie erst später unter Verwendung der alten Bilder geschaffen.

Gott und velnias

Dies ist der Anfangszustand der Welt, der Ausgangspunkt ihrer Entwicklung, der in den Entstehungsmythen manchmal beschrieben und manchmal nur angedeutet wird. Es ist die Bühne, auf der zwei Schöpfer – Gott und velnias, der Teufel – die heutige Welt formen. Gott erschafft dabei alles, was nützlich und schön ist, der Teufel alles Schädliche und Hässliche. Gott macht die Erde glatt, velnias ist verantwortlich für zerklüftete Gegenden, Berge und Sümpfe. Gott formt einen gesunden Menschen, velnias gibt ihm Krankheiten. Gott schafft nützliche Tiere, velnias den Wolf. Gott sät Bäume und Nutzpflanzen, velnias Steine. Gott handelt bewusst und zielgerichtet, während velnias ihn nur imitiert und dabei nie das erreicht, was er beabsichtigt hatte. Auch velnias will einen Vogel machen, der den Bauern bei der Arbeit auf dem Feld erfreut, doch während Gott die Lerche schafft, kommt bei velnias nur eine Kröte heraus.

Der Gott der litauischen Entstehungsmythen ist erdverbunden und krempelt die Ärmel selbst hoch. Er rudert in einem Boot über die Ursuppe und verrichtet alltägliche Arbeiten – er schneidet Heu, baut Ställe, macht Feuer und wäscht sich das Gesicht. Selbst bei der Erschaffung der Welt, die nicht wie in der Bibel als übernatürliche, mysteriöse Handlung, sondern als Alltagsaufgabe beschrieben wird, verliert er nie seine Bodenständigkeit.

Gott sät Ackerland oder schafft es aus dem Staub, den velnias ihm bringt. Er formt den Menschen aus „reinem Ton“. Nachdem er die Tiere kreiert hat, gibt er ihnen Augen und Namen und sagt ihnen, wo und wie sie leben sollen und wem sie zu gehorchen haben. Er färbt die Federn der Vögel mit Pinsel und Palette. Diese Beschreibung des höchsten Wesens als Handwerker gibt seinem Bild Wärme und Menschlichkeit. Dennoch strahlt er in den meisten Entstehungsmythen etwas Majestätisches aus, das ihm durch seine Weisheit, seinen Scharfsinn und seine kreative Kraft verliehen wird. Außerdem ist er die höchste Instanz der Gerechtigkeit. Er bestraft die Prahler, Faulen, Gierigen und belohnt die Fleißigen und Rechtschaffenen. Somit ist er ein Volksheld, um einen Begriff aus der Volkskunde zu benutzen.

Doch auch velnias wird nicht als böse dargestellt, sondern als komisch. Er will Gott imitieren oder sogar töten, doch er ist dumm, unfähig und verfügt nicht über dessen kreative Schöpferkraft. Sein wiederholtes Scheitern beim Versuch, etwas Großes zu schaffen, und das Verhältnis von eingesetzten Ressourcen zum Ergebnis sorgen für Komik. Dennoch behält der velnias der Entstehungsmythen Züge, die seine göttliche Herkunft und Wesensähnlichkeit zum Volkshelden zeigen. Manchmal wird er sogar selbst als Gott bezeichnet. Um Heu zu machen, benutzt er eine Sense, die nicht einmal der Schöpfer besitzt, und er kann Eisen schmieden, was ihn zu einer Art Schutzpatron der Handwerker macht.

Die beiden Hauptcharaktere der litauischen Schöpfungsmythen unterscheiden sich grundlegend von denen der christlichen Lehre, auch wenn sie wie dort in „gut“ und „böse“ aufgeteilt sind. Ihr Ursprung reicht auf die viel ältere heidnische Mythologie zurück. Das Bild eines einfachen, bäuerlichen Gottes stammt ganz offensichtlich nicht aus der Bibel (wo es so gar nicht vorkommt), sondern aus der Zeit der ersten sesshaft gewordenen Bauern, deren harten Daseinskampf es spiegelt. Ein solcher Schöpfer kommt nicht nur in der Sagenwelt der indogermanischen, sondern auch vieler anderer Völker vor und nimmt manchmal auch Tier- oder Vogelgestalt an.

Der litauische Schöpfergott und sein Gegenspieler velnias ähneln in Art und Handlungsweise dem mystischen Wasserkind der amerikanischen Ureinwohner, ihrem Kojoten und Raben. Auch velnias hat dabei kaum etwas mit dem Teufel der Bibel gemeinsam. Der litauische velnias ist ein Narr oder Spaßmacher (der manchmal ebenfalls zum Volkshelden wird), so wie der Kojote der amerikanischen Ureinwohner, die Spinne bei afrikanischen Stämmen und der maui bei den Polynesiern. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in den Sagen primitiver Kulturen keine dualistische Teilung in gut und böse vorkommt. So tritt der Kojote in Sagen der amerikanischen Ureinwohner sowohl der Held als auch als Narr auf.

Götternamen

In den alten Quellen kommt es vor, dass ein- und derselbe Gott mit verschiedenen Namen belegt wird. So geht man davon aus, dass die Namen Nunadievis und Andajus denselben Gott, den ersten und höchsten der litauischen Götter, bezeichnen. Derselbe Fall liegt bei Diviriks vor, der wahrscheinlich mit Perkūnas identisch ist. Diviriks ist der ausführende Gott (Dievu rikis), sozusagen der Stellvertreter des höchsten Gottes, der in der litauischen Religion einen deus otiosus (neutralen, gleichgültigen Gott) darstellt.

Diviriks entspricht dem keltischen Gott Teutates, der auch Toutiorix genannt wird, der „Herrscher des Landes, der Bischof“. Auch in der keltischen Religion in schriftlichen Quellen haben Götter oft verschiedene Namen, von denen viele Eigenschaften oder Anrufungsnamen sind. So ist auch die Hauptgöttin des litauischen Götterreigens des 13. Jahrhunderts Medeina wahrscheinlich identisch mit Žvorūna der Hündin. Beiden werden Eigenschaften zugeschrieben, die mit der Jagd zu tun haben, Medeina könnte also eine Jagdgöttin gewesen sein. Žvorūna hatte die Gestalt einer Hündin, zveris bedeutet „Tier“, und man geht davon aus, dass es sich um eine Jagdhündin handelte. Medeina weist auf Bäume hin (medis = Baum), und das litauische Wort medziokle (jagen) zeigt die Verbindung von Jagen und Bäumen (= im Wald).

Es gibt mehrere Erklärungsansätze, warum Götter mit verschiedenen Namen belegt wurden: Der Name könnte je nach den Umständen, unter denen der Gott angerufen wurde, gewechselt haben, oder aber es gab in den verschiedenen Landesteilen regionale Namen für jeden Gott. Die wahrscheinlichste Begründung ist jedoch, dass der „wahre“ Name eines Gottes tabu war und nicht oder nur bei besonderen Anlässen ausgesprochen wurde – das ist auch aus anderen Religionen bekannt. Damit verband sich die Furcht, dass der wahre Name den Gott erscheinen lassen würde, oder auch einfach großer Respekt. Reste davon finden sich in der litauischen Folklore, in der Götter viele Namen haben: Perkūnas heißt auch Dundulis, Bruzgulis, Dievaitis, Grumutis etc, Velnias auch Kipšas, Pinčiukas, Vokietukas etc.

Suche