Wirtschaft, Politik und Kultur


Geschichte von Litauen – Start

Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Man konnte Litauen zwischen den Kriegen für kurze Zeit als einen der rückständigsten Staaten im Mittel- und Osteuropa bezeichnen. Gemessen an seiner wirtschaftlichen Entwicklung war Litauen auf einem ähnlichen Niveau wie Bulgarien oder die östlichen Randgebiete von Polen. Die Nachbarn Lettland und Estland hatten mehr erreicht. Man darf allerdings die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass die Ausgangsposition der Nachbarn viel günstiger war: von Russland konnte eine potentielle industrieelle Basis und ein gut ausgebautes Kommunikationsnetz übernommen werden, und die dominierende nationale deutsche Minderheit half, ein hohes Bildungs- und Lebensniveau zu erreichen. In Litauen fehlten diese Dinge. Der in nur 25 Jahren Unabhängigkeit – einer historisch gesehen kurzen Periode – erreichte Fortschritt war jedoch nicht weniger eindrucksvoll.
Die Nachkriegssituation in Litauen erforderte ein Wirtschaftsmodell, in welchem der wichtigste Wirtschaftszweig die Landwirtschaft war. Alle anderen Wirtschaftszweige sollten der Landwirtschaft nur assistieren. Im Vergleich zur Vorkriegszeit gab es in der Landwirtschaft eine echte Revolution: von der extensiven Wirtschaft ging man zur intensiven über, vom Getreideanbau wechselte man zur Viehzucht. Unmittelbar nach den Unabhängigkeitskämpfen begann man eine radikale Bodenreform.
In einem Land, dessen Bevölkerung Anfang des Jahrhunderts zu 75% Bauern waren, denen aber nur 25% des Bodens gehörten, war dies sehr aktuell. Der große Teil der Bauernhöfe wurde den freiwilligen Verteidigern der Heimat, den Landlosen und Kleinbauern zugeteilt. Dies erhöhte die Zahl der Besitzer von Eigentum sehr stark und stärkte so die politische und soziale Stabilität des Landes. Natürlich bestand auch das Risiko des Scheiterns von Neusiedlern und des Rückgangs der landwirtschaftlichen Produktion des Landes. Doch dies trat nicht ein – aufgrund der Beharrlichkeit der Neusiedler und aufgrund der günstigen Konjunktur, die hohe Preise für Landwirtschaftsprodukte auf dem Binnen- und Weltmarkt ermöglichte. Die Bodenreform schenkte Tausenden von ehemaligen Kleinpächtern und landlosen Bauern ein Stück Land und machte sie zu Landbesitzern. So wurde die Mittelschicht gestärkt – ein Gegengewicht zur Radikalität des Proletariats.
Litauen musste seine Industrie auf neuer Grundlage nahezu vollständig neu begründen. Vor dem Krieg existierten günstige Bedingungen für die Gründung großer Unternehmen, die für den großen russischen Markt produzierten; das Kapital für die Industrieentwicklung kam aus dem Westen-, meist aus Deutschland. Doch nach dem Krieg fand das Kapital sehr schwer den Weg in das politisch und ökonomisch instabile Osteuropa. Mehr noch, Vilnius – vor dem Krieg ein industrielles Zentrum – befand sich nun ausserhalb der Grenzen Litauens. Natürlich wurde dieser Verlust wirtschaftlich durch die Angliederung des Memellandes kompensiert. Diese ehemalige deutsche Provinz wurde für das unterentwickelte Litauen der ökonomisch am meisten entwickelte Teil, der das große Litauen durch seine soziale Sphäre und sein materielles Entwicklungsniveau übertraf.
Der wichtigste Industriezweig des Landes, der fast die Hälfte der gesamten Produktion ausmachte, war die Lebensmittelproduktion, meist in Form von Fleisch-, Molkerei- und Zucker-Produkten. Bei ständig zunehmendem Export landwirtschaftlicher Güter wurden große und technisch gut ausgerüstete Fabriken in allen größeren Städten gebaut. Mit der Zeit konnte die litauische Industrie das Land mit fast allen Industriegütern versorgen. Luxus¬güter, moderne Maschinen, komplizierte Technik wurden importiert. Der Aufruf „Konsumieren Sie nur die Produkte des Heimatlandes“ war nicht nur ein Werbespruch, sondern ein sehr wirksamer Appell an die Gesellschaft. Besonders in der Zeit zwischen den Kriegen wurde viel auf den Gebieten der Bildung und Kultur erreicht. Der eindrucksvollste Erfolg war jedoch die vollständige Abschaffung des Analphabetismus. Im Jahre 1923 waren noch ein Drittel der Einwohner Analphabeten und am Ende der Unabhängigkeitsperiode nur noch 6%. Dies wurde durch Ausweitung des Schulnetzes erreicht und durch Einführung der Grundschulpflicht im Jahre 1930. Sogar die Armee half mit, dieses Ziel zu erreichen. Viele junge Männer lernten in der Armee lesen und schreiben. Das kulturelle Leben war sehr dynamisch, voller Suche und Experimente. Das Wichtigste war, dass das tägliche Leben sehr unabhängig von allen Regierungsveränderungen verlief. Sogar in den Jahren des autoritären Regimes, als das politische Leben und demokratischen Freiheiten drastisch eingeschränkt waren, die politische Zensur existierte und es überhaupt genug unnötige Einschränkungen gab, klagte ein Künstler oder Schriftsteller selten über die Einschränkung seiner künstlerischen Schaffensfreiheit. Keine Macht schrieb ihm Inhalte und Art und Weise seines Schaffensprozesses vor.
Natürlich versuchte Litauen die weiterentwickelten Nachbarn einzuholen, aber das wichtigste waren die Bestrebungen zur Integration in die westliche Zivilisation als vollwertiges Mitglied. Natürlich konnten sich nicht alle Bürger vorstellen, welch große Anstrengungen und welch qualitative Veränderungen auf allen Gebieten notwendig waren. Der Klassiker der litauischen Literatur Juozas Tumas Vaižgantas hat einmal ziemlich naiv behauptet, dass der Litauer nur eine harte Schale hat, im Inneren jedoch ein Idealeuropäer ist. Andererseits war aber auch ihm klar, das diese Schale nicht von selbst verschwindet.
Der Sieg der Demokratie, mit dem der erste Weltkrieg endete, war jedoch weder endgültig noch stark. Bald ereilte die parlamentarische Demokratie, die auf den liberalen, politischen und wirtschaftlichen Ideen des 19. Jh. begründet war, eine große Krise. Litauen bestand als eines der ersten Länder diese Probe nicht – Ende 1926 wechselte man nach einem Militärputsch von einem schwachen parlamentarischen zum autoritären System. Diesen Bruch beschleunigten ständig eskalierende politische Gegensätze, die fast zum Hauptcharakterzug der politischen Entwicklung in Litauen wurden. Einen hohen Anteil am Untergang „der Seimokratie“ (Parlamentsherrschaft) hatte die Armee, die eine aktive Rolle im Leben des Landes spielte. Man muss sagen, dass Litauen nicht unter den glücklichen Staaten zu finden ist, deren Armee ihre Verantwortung erkannte.
Wenn es Litauen vom Schicksal auch nicht beschieden war, die Periode der „harten“ Macht zu vermeiden, dann gelang es zumindest, dass die Herrschaft des autoritären Systems in die Hände von Antanas Smetona fiel. Sein Regime verdient, wie auch jedes andere Polizeiregime, natürlich keine Sympathien, und die Anhänger der parlamentarischen Demokratie hatten jeden Grund, es zu hassen. Man darf es aber nicht unerwähnt lassen , dass A. Smetona dem Land Litauen noch größere Katastrophen ersparte, indem er die Attacken der radikalen Nationalisten und der Anhänger einer faschistischen Diktatur abwehrte.

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