Egle die Natterkönigin

Natterkönigin Egle in Palanga
Skulptur von Egle die Natterkönigin in Palanga, (c) UAB ANTILE

In Zusammenhang mit dem totemischen Glauben an die Macht der Natter und das Sinnbild des Bernsteinpalastes steht das älteste litauische Märchen „Egle die Natterkönigin“.

Während die Fischertochter Egle im Meer badet, schlüpft der Natterkönig in ihre Kleider. Eglë verspricht ihm im Scherz, ihn zu heiraten, wenn er ihr die Kleider wiedergibt. Nach einigen mythischen Täuschungsversuchen muss Egle den Natterkönig Þilvinas aber tatsächlich heiraten und lebt fortan in einem riesigen Bernsteinpalast auf dem Grund des Meeres.

Hier findet Egle ihr Glück, denn der schöne Þilvinas schenkt ihr seine Liebe. Die Fischer aber sehen Þilvinas nur als Teil ihres harten Überlebenskampfes mit dem Meer. Umschlossen von Wellen und den Tod ankündigender Kälte blicken sie in die stechenden, unbarmherzigen Augen der Natter.

Natter und Bernstein sind Symbole des goldenen Zeitalters und der jenseitigen Welt der Seelen. Aus dieser Welt sehnt sich Egle nach Hause zurück und erkämpft sich durch das Bestehen schwieriger Aufgaben das Recht, ihre Eltern zu besuchen. Egles Brüder jedoch foltern Egles Kinder, um hinter das Geheimnis des Natterkönigs zu kommen, und als sie den magischen Namen Þilvinas erfahren haben, zerhacken sie den Natterkönig mit ihren Sensen. In ihrer Hoffnungslosigkeit und ihrem Schmerz verwandelt Egle sich in eine Tanne und ihre Kinder in eine Eiche, eine Esche, eine Birke und eine Espe.

Die Bernsteinkrone der Natter

Bernstein
Der Bernstein wurde auch als Sonnenstein betrachtet. (c) UAB ANTILE

Mythologisch gesehen entspricht die Natterkrone für Litauen dem, was für Europa der Heilige Gral und der Stein der Weisen sind. An den Küstenstrichen im Baltikum wurden im Neolithikum und in der Bronzezeit Amulette und Talismane aus Bernstein hergestellt. Bernstein war zu dieser Zeit ein Symbol für die Sonne und stellte die Verbindung zur chthonischen Welt und den Seelen der Verstorbenen her. Man glaubte, dass der Bernstein die magische Kraft besitzt, Weisheit zu verleihen und die Kräfte der Ahnen zu versammeln. Aus Bernstein wurden geheimnisvolle Elixiere hergestellt, er wurde dazu verwendet, Visionen heraufzubeschwören und den baltischen Kosmos zu beleben.

Die Natter, das Totem einer Reihe baltischer Stämme, wurde mit einer Bernsteinkrone geschmückt (um einiges später wurde diese durch eine goldene Krone oder einen goldenen Kranz ersetzt, vielleicht in Anspielung auf die Symbolik westlicher Monarchen oder den goldenen Gral). Die Natter (siehe: Egle die Natterkönigin) ist eine Bewohnerin der unterirdischen Welt. In Litauen wurde sie Jahrhunderte lang als Gottheit des heimischen Herdes, des Glücks und der Fruchtbarkeit verehrt. Man glaubte, dass sich die Seelen der Verstorbenen in Nattern niederlassen. Die Bernsteinkrone symbolisiert auch die von Verstorbenen erhaltenen Fähigkeiten und ihren Segen. Nachdem der Wasser- und Erdkult erstarkt war, wurden Nattern mit Erde und Sonne in Verbindung gebracht, sie waren die Träger entsprechender Fähigkeiten und Attribute.

Der Bernstein wurde auch als Sonnenstein betrachtet, der Fähigkeiten dieses magischen Gestirns besitzt. Deswegen ist der königliche Schmuck der Natter, der Vermittlerin göttlicher Botschaften, aus Bernstein. Noch heute glaubt man in Litauen, dass derjenige, der die Natternkrone zu finden vermag, allwissend, allmächtig und von den Göttern, dem Himmel und den Ahnen gesegnet ist. Mythologisch gesehen ist die Natterkrone auf ihre Weise dem Stein der Weisen bei den Alchimisten nahe. Und wenn man sich daran erinnert, dass das Symbol der alchimistischen Transformation und der Seelenwanderung eine sich in den Schwanz beißende Schlange ist, versteht man, woher die Parallelen mit der königlichen Natter kommen.

Bernstein wurde auch in der Alchimie verwendet: um Heilmittel herzustellen und auf der Suche nach dem Elixier des Lebens, dem Stein der Weisen oder Gold. In den Aufzeichnungen der Alchimisten werden oft die Termini Oleum succini (Bernsteinöl), Balsamum succini (Bernsteinbalsam) und Extractum succini (Bernsteinextrakt) verwendet.

Bernstein

Die Menschen im Baltikum sind durch die Materialien Leinen, Bronze und Bernstein miteinander verbunden. Diese drei Materialien werden bereits in den ältesten Mythen und Legenden erwähnt und mit vorchristlichen Göttern, Gewässern, Kriegen und der Arbeit in Friedenszeiten, Liedern und Ritualen in Verbindung gebracht. Im Altertum war das von litauischen Frauen gewebte Leinen in allen Bereichen des Lebens präsent, Männer ließen Waffen aus Kupfer schmieden und verwendeten Bernstein für Rituale, bei denen sie die Götter um Beistand für Arbeit und Kampf baten. Deswegen ist Bernstein schon seit vorchristlichen Zeiten ein Zeichen für die göttliche Welt, ein Merkmal für Transzendenz und die Spur von Übernatürlichem. Er verweist auf andere Welten: die des goldenen Zeitalters, himmlischer Schönheit, eines ehrenvollen Lebens nach dem Tod, ewiger Gesundheit und tiefer Weisheit. Deswegen hat das Interesse für den Bernstein über Jahrhunderte hinweg nicht abgenommen.

Bernstein
Der Bernstein wurde auch als Sonnenstein betrachtet. (c) UAB ANTILE

Nicht nur in Litauen ist das duftende und von vergangenen Zeitaltern geprägte erstarrte Harz eine Kostbarkeit. Laut Kazimieras Mizgiris wird Bernstein dann als Mineral bezeichnet, wenn er älter ist als 30 Millionen Jahre. Früher wurde Bernstein auf Sizilien noch in sehr kleinen Mengen gefunden, heute jedoch erschöpft sich die Bedeutung Sizilianischen Bernsteins in der Mythologie und der Dichtung. Bernstein findet man Hauptsächlich noch in Kanada, Kolumbien, Galizien, auf Grönland, auf Kamtschatka, in der Dominikanischen Republik, in Spanien, Syrien, im Libanon, in Japan, Mexiko, Kolumbien, der Ukraine, Polen, Russland und an anderen Orten.

Da Bernstein nicht an jedem Ort derselbe ist, sind auch die ihn begleitenden Legenden und Rituale sehr verschieden. Zum Beispiel wird der Sizilianische Bernstein auch Simetit genannt (nach den ersten Fundstellen an der Ufermündung des Flusses Simeto). Wie auch der Baltische Bernstein ist der Simetit gelblich, bräunlich und purpurfarben, seltener grünlich, bläulich oder gar goldfarben.

Bernsteinmuseum in Palanga
Bernsteinmuseum in Palanga. (c) UAB ANTILE

Baltischer Bernstein besteht zu 0,16 – 1,24 Prozent aus Schwefel, der Simetit enthält jedoch mehr Schwefel, nämlich 0,70 – 2,52 Prozent. Man sagt, dass der Sizilianische Bernstein beim Aushärten vom Ätna ausgesonderte Gase in sich angereichert hat. Hierher rühren auch die Unterschiede zwischen Baltischem Bernstein und Simetit. Wird Baltischer Bernstein erhitzt, so riecht er erfrischend nach Kiefernzweigen und versetzt uns in unserer Vorstellung an die rauschenden Küsten der Kurischen Nehrung. Der Simetit jedoch verströmt einen starken Schwefelgeruch und erinnert an die Schmieden des Hephaistos, wenn sie ihre Arbeit aufnehmen. Baltischer Bernstein schimmert im Dunkeln ruhig und sanft, Sizilianischer Bernstein hingegen zeichnet sich durch ein heftiges Leuchten aus (die heutige Wissenschaft bestreitet das Vorhandensein eines solchen Leuchtens). Wie dem auch sei, Schmuck und Ketten aus Sizilianischem Bernstein funkeln in der Sonne meist in mehreren Farben: leuchtend rot, gelb, grün und bläulich. In Sizilien werden Stücke des legendären funkelnden Simetits auch „Tränen der Heliaden“ genannt.

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