Die Totenklage

Die Tradition, bei einer Beerdigung religiöse Lieder zu singen, wurde von der Kirche eingeführt und sollte die Totenklage ersetzen, die erstmals als baltischer Brauch im 13. Jahrhundert in den Livonischen Chroniken erwähnt wird und wahrscheinlich gleichzeitig mit dem Glauben an ein Jenseits entstand. 1426 verbot M. Jungë den Litauern in Ostpreußen dieses Trauerritual; wer nicht gehorchte, wurde mit Geldstrafen belangt. Auch 1638 tauchen in den Kirchenannalen in Isrutis Anweisungen auf, Missachtung des Totenklage-Verbots zu bestrafen, denn die Litauer waren dazu übergangen, die Totenklage Bettlern und Propheten zu übertragen, denen sie dafür Fleisch, Brot, Korn, Kleider und andere Gegenleistungen gaben. Im 19. Jahrhundert beschreibt L. Jucevièius die Totenklage in Samogitia so: „Ein weibliches Familienmitglied betrauert laut den Toten und zählt all seine Tugenden auf. Wenn sich in der Familie keine Klageperson findet, wird ein Außenstehender gebeten.“ In Südostlitauen gibt es in einigen Orten die Totenklage heute noch.

Beim Waschen und Ankleiden des Toten und in Pausen zwischen Liedern wurde der Tote offen beweint. Besonders tiefe Trauer herrschte, wenn der Tote in den Sarg gelegt wurde, beim Verlassen des Hauses und beim Absenken des Sargs ins Grab. Bei der Klage wurden die guten Taten des Toten und die wichtigsten Ereignisse in seinem Leben aufgezählt und das traurige Schicksal seiner verwaisten Kinder beschrieben. Klagepersonen verabschiedeten sich im Namen des Toten von Verwandten, Freunden und seinem Zuhause. Wesentliche Elemente der Totenklage waren Liebe und Dankbarkeit gegenüber dem Toten. Man bat ihn, die Familie nicht zu vergessen, sie zu besuchen, sie zu verteidigen und beschützen. Dafür wurde die direkte Anrede gewählt, da man glaubte, dass die Seele während aller Totenriten nahe beim Körper bleibt und alles hören und sehen kann.

Nach der litauischen Tradition wurde der Tote erst kurz vor der Bestattung auf dem Friedhof in den Sarg gelegt. Archäologische und schriftliche Quellen zeigen, dass die Litauer den Sarg für das Zuhause nach dem Tod hielten, daher wurden Särge bequem und anheimelnd gestaltet, indem man sie mit weißem Tuch ausschlug und heilige Kräuter beigab. Bis zum 20. Jahrhundert wurden dem Toten auch Werkzeuge und andere Gegenstände mitgegeben, damit er im Jenseits alles hatte, was er brauchte. Heutzutage legt man nur noch religiöse Symbole wie Rosenkränze und Heiligenbilder in den Sarg.

Nach dem alten Glauben bedeutete die Einsargung des Toten die endgültige Trennung von den Lebenden, da er nun nicht mehr alles hören und sehen konnte, was um ihn herum geschah. Nachdem der Tote in den Sarg gelegt worden war, wurde er ohne weitere Verzögerung zum Friedhof gebracht, da sonst die Gefahr bestand, dass es weitere Tode in der Familie gab. Aus demselben Grund wurden auch alle Aufbahrungs- und Trauergegenstände sofort entfernt.

In alter Zeit fand die Beerdigung traditionell nachmittags statt, zum Zeitpunkt des Sonnenuntergangs. Im 18. Jahrhundert wehrten sich die Litauer lange gegen die Einmischung der Kirche in die überlieferten Totenriten. Erst als die Kirche zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchsetzte, Totenmessen in der Kirche und Bestattungen in geweihtem Boden auf Kirchhöfen durchzuführen, wurden Beerdigungen auf den Vormittag verlegt. Überall dort, wo die Toten auf ungeweihten Dorffriedhöfen bestattet werden, findet das Begräbnis immer noch am Nachmittag statt. Man sagt, dass der rechte Zeitpunkt gekommen ist, wenn die Sonne tief am Himmel steht.

Ein weiterer Begräbnisritus besteht darin, drei Handvoll Erde über den Sarg zu streuen, wenn er ins Grab gelassen wurde. Damit wünscht man dem Toten ewigen Frieden, es ist der letzte Abschiedsgruß, dem man ihm geben kann. Nach den Lehren der katholischen Kirche soll es die Lebenden daran erinnern, dass sie „vom Staub sind und zum Staub zurückkehren werden“. Doch die Geste ist viel älter und geht auf ein altes magisches Ritual zurück, mit dem man die Seele des Toten aus dem Reich der Lebenden verjagte, damit sie niemanden ängstigt.

Bräuche & Traditionen in Litauen
Litauische Hochzeit | Beerdigungsriten | Totenklage | Leichenschmaus & Seelenmahl

Volkstanz auf der Bühne

Heute muss man beim Begriff „Volkstanz“ zwischen den ursprünglichen und den für die Bühne geschaffenen Formen unterscheiden. Bühnentänze, die für die Aufführung vor Publikum gedacht sind, unterliegen ganz anderen Kriterien als die tatsächlich im Volk entstandenen Tänze. Die Choreografie folgt ästhetischen Gesichtspunkten, die Tänzer sind oftmals im klassischen Ballett ausgebildet, Tempo und Rhythmus schneller, die Schritte und Melodien komplizierter. Oft stimmt nur noch der Name eines Tanzes mit der ursprünglichen Form überein. Dies verwässert die Volkstanzkultur und führt immer wieder zu ernsthaften Diskussionen: Sollte man versuchen, die Tänze in ihrer Ursprungsform zu erhalten, oder ist es legitim, dass Choreografen sie weiterentwickeln?

Die Beantwortung dieser Frage bleibt allein den Ausführenden überlassen und hängt vor allem vom Publikumsgeschmack ab. Die beiden Lager sind gleich stark vertreten. Es gibt etwa fünfhundert Folklore-Ensembles, die die Tänze so aufführen, wie sie von ihren Eltern und Großeltern überliefert wurden, und ebenso viele Bühnentanzgruppen. Beide organisieren Veranstaltungen und Auftritte und nehmen an nationalen und internationalen Festivals teil, wenn sie die Reisekosten aufbringen können. Auch beim World Lithuanian Song Festival (einem alle vier Jahre stattfindenden litauischen Volksmusikfestival) sind unter den 35.000 Teilnehmern immer beide Richtungen vertreten.

Litauische-Tanz-Geschichte
Den ersten schriftlichen Hinweis auf baltische Musik findet man gegen Ende des 9. Jahrhunderts.
Der angelsächsische Reisende und Händler Wulfstan berichtete, dass die Balten bei Beerdigungen Musik spielten.

Die verschiedenen Tanzformen
Litauische Volkstänze lassen sich in vier Gruppen einteilen:
polyfonische Gesangstänze, Ring- oder Kreistänze, Tanzspiele und freie Tänze.

Die verschiedenen Tanzformen

Litauische Volkstänze lassen sich in vier Gruppen einteilen:

polyfonische Gesangstänze, Ring- oder Kreistänze, Tanzspiele und freie Tänze.

Polyfonische Gesangstänze (Sutartinių šokiai): Wie im Kapitel „Lieder“ beschrieben, handelt es sich bei den sutartinės um einzigartige, uralte, mehrstimmige Lieder. Zu etwa einem Drittel von ihnen gehören begleitende Tanzelemente, bei denen es sich um einfache und leicht auszuführende Bewegungen handelt. Es tanzen drei oder vier Frauen im Kreis oder im Quadrat und singen dazu. Ein Beispiel hierfür ist „Šokinėjo žvirblalis po pievų“.

Ringtänze und Kreistänze (c) llkc.lt

Ringtänze und Kreistänze (c) llkc.lt

Ring- oder Kreistänze (Rateliai): An einem Ringtanz können beliebig viele Tänzer teilnehmen, und sie begleiten sich dabei selbst durch Gesang ohne Unterstützung durch Instrumente. Während sie die Kreisform abschreiten, führen die Teilnehmer verschiedene Bewegungen aus. Diese illustrieren manchmal den Liedtext, meist jedoch handelt es sich um einfache Tanzelemente wie das Einhaken und Drehen und andere Figuren. Es gibt verschiedene Ausgangspositionen bei Ringtänzen: einfache Kreise (zum Beispiel ”Pasėjau žilvitį”, “Gražus mūsų jaunimėlis”, “Verdu bulvienę”), Doppelkreise, Reihentänze (”Esu dailiai i mokyta”), Spaliertänze (“Upytėlė teka”), Kettentänze und viele andere Variationen.

Tanzspiele (Žaidimai): Bei Tanzspielen wird selten gesungen, und falls doch, gibt es keinen strengen Rhythmus. Hauptelemente sind kreative Improvisation, gesprochene Dialoge (wie in “Šarka” (= Elster) oder “Žvirblis” (= Spatzen) und das Erfüllen von „Aufgaben“. Einige Tanzspiele ähneln den Ringtänzen (zum Beispiel “Katinas an pečiaus“).

Freie Tänze (Šokiai): Diese Tänze werden von Instrumentalmusik, in manchen Fällen auch von Gesang begleitet. Die einzelnen Paare sind im Raum frei aufgestellt, tanzen jedoch dieselbe Choreografie, sodass sich ein Gruppenbild ergibt. Die Tänze bestehen aus festgelegten Schritten, Bewegungen und Figuren.

Litauische Paartänze (c) llkc.lt

Litauische Paartänze (c) llkc.lt

Litauische Paartänze (wie zum Beispiel “Šokinėkit, berniukai”, “Kiškelis”, “Gudo dūda”, “Pjoviau šieną”, “Drailinas, “Anės polka”, “Grečinikė”) und auf Paartänzen basierende Gruppentänze (“Našliukas”, “Polka keturinė”, “Noriu miego”, “Malūnėlis”) unterscheiden sich in ihren Schritten und Bewegungen wenig von denen in benachbarten Ländern, sind in ihrem Charakter und Ausdruck jedoch einzigartig. Selbst ausländische Tänze, die ihren Weg nach Litauen fanden (wie Krakoviak, Latrišas, Aleksandra, Vengierka, Lelenderis, Valsas, Kadrilis und andere) wurden verändert und erhielten viele neue Varianten, sodass sie sich in charakteristischen Merkmalen von der Ursprungsform unterscheiden.

Litauische-Tanz-Geschichte
Den ersten schriftlichen Hinweis auf baltische Musik findet man gegen Ende des 9. Jahrhunderts.
Der angelsächsische Reisende und Händler Wulfstan berichtete, dass die Balten bei Beerdigungen Musik spielten.

Volkstanz auf der Bühne
Heute muss man beim Begriff „Volkstanz“ zwischen den ursprünglichen
und den für die Bühne geschaffenen Formen unterscheiden.

Geschichte der litauischen Tänze

Den ersten schriftlichen Hinweis auf baltische Musik findet man gegen Ende des 9. Jahrhunderts. Der angelsächsische Reisende und Händler Wulfstan berichtete, dass die Balten bei Beerdigungen Musik spielten. Auch spätere historische Quellen erwähnen preußische und litauische Musik und Tänze. Leider sind bis zum 20. Jahrhundert nur vereinzelt Tänze näher beschrieben – meist wird nur der Name genannt, manchmal die Stimmung wiedergegeben. Weder die Musik noch die Choreografie wurden aufgezeichnet, sodass man nur vage auf das Gesamtbild schließen kann.

Geschichte der litauischen Tänze
Geschichte der litauischen Tänze (c) llkc.lt

Daran änderte sich leider auch im 20. Jahrhundert nicht viel. Während das umfangreiche Liedgut von Litauen aufgezeichnet und in Liederbüchern gedruckt wurde, blieben die Tänze undokumentiert. Dennoch haben sie überlebt, weil sie von traditionsbewussten Eltern und Großeltern bei Dorffesten unter freiem Himmel an die junge Generation weitergegeben wurden. Und noch heute reisen Folkloregruppen durch die ländlichen Gegenden, die dabei helfen, traditionelle Volkskunst aufzuzeichnen, und die Tänze gern in ihr Repertoire aufnehmen.

Feste und Tänze waren in Litauen – wie auch in den baltischen Nachbarstaaten Lettland und Estland – immer sehr beliebt. In alten Zeiten begleiteten Tänze jahreszeitliche Rituale. Später dienten sie dann hauptsächlich zur generationsübergreifenden Unterhaltung: Im Sommer wurde auf den Feldern gefeiert, im Winter in den Bauernhäusern. Während die junge Generation tanzte, schauten die Älteren und die Kinder zu.

Die verschiedenen Tanzformen Litauische Volkstänze lassen sich in vier Gruppen einteilen: polyfonische Gesangstänze, Ring- oder Kreistänze, Tanzspiele und freie Tänze.

Volkstanz auf der Bühne Heute muss man beim Begriff „Volkstanz“ zwischen den ursprünglichen und den für die Bühne geschaffenen Formen unterscheiden.

Litauische Lieder, die regionalen Unterschiede

Einige Liedthemen findet man in ganz Litauen. Dazu gehören die Hochzeitslieder, die landesweit am populärsten sind. Manche von ihnen haben über 1000 aufgezeichnete Varianten. Auch Kinder- und Feierlieder sowie Stücke über die Jugend, die Liebe oder die Familie sind landesweit beliebt. Im Allgemeinen unterscheiden sich jedoch die Themen und Gesangstechniken nach den verschiedenen Liedtypen und ethnischen Regionen.

Dzūkija (Südlitauen) weist von allen Landesteilen das größte Liedgut mit vielen Themen und Melodievarianten auf. Mit wenigen Ausnahmen stammen die einzigen noch bekannten Kalenderjahrlieder von hier. Besonders in Süddzūkija kennt man noch heute außergewöhnlich viele Advents- und Weihnachtslieder. Aus dem kleinen Gebiet des östlichen Dzūkija stammen viele Lieder zur Fastnacht, zum Feiertag des Heiligen Georg und zum Schunkeln, ebenso wie archaische antifonische Lieder, die als Wechselgesang von zwei Gruppen vorgetragen werden.

Einstimmige (oder heterofone) Lieder und Soli kommen in ganz Dzūkija vor. Der Sologesang wird dabei durch seine Individualität bestimmt: Eine Melodie kommt in vielen Varianten vor, da jeder Sänger neue Melodienbögen hinzufügt und das Lied immer wieder anders interpretiert. So sind zum Beispiel Klagelieder zu Hochzeiten und Beerdigungen traurige, lang gezogene Improvisationen. Auch die später aufgekommenen zweistimmigen Lieder haben ihren Ursprung in Dzūkija. Einzigartig für diese Region ist die Vielfalt an Tonarten. Außer im bekannten Dur und Moll tauchen hier auch Stücke in phrygischer Tonart und anderen alten, so genannten griechischen Tonarten auf.

Die regionalen Unterschiede im litauischen Liedgut (c) llkc.lt

Die regionalen Unterschiede im litauischen Liedgut (c) llkc.lt

In Ostlitauen (Aukštaitija) ist das Liedgut nicht so umfassend wie in Dzukija, doch auch hier gibt es mehrere regional einzigartige Varianten. Vor allem sind zwei Arten von mehrstimmigen Liedern typisch, die jedoch Jahrhunderte auseinanderliegen. Die uralten sutartinės kommen nur im Nordosten Aukštaitijas vor, wo sie bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts noch gesungen wurden. Die neueren zweistimmigen Lieder mit einfachen Rhythmen, Takten und in Durtonarten sind dagegen heute noch beliebt. Im Nordwesten der Region, die auch für ihr köstliches Bier berühmt ist, sind die valiavimai zu Hause. Hierbei handelt es sich um Lieder zur Heuernte, die von Männern gesungen werden. Außerdem haben Begleitlieder zur Flachsverarbeitung und mitreißende Trinklieder hier ihren Ursprung.

In der kleinsten ethnischen Region Suvalkija (Südwestlitauen) kennt man vor allem den zwei- und dreistimmigen Gesang, der dem in Aukstaitija ähnelt. Doch haben hier auch einige alte einstimmige Lieder überlebt, die mehr Gemeinsamkeiten mit dem Liedgut in Dzukija und Ostpreußen haben.

Die Bodenständigkeit und Langsamkeit, die man den Westlitauern nachsagt, spiegelt sich auch in ihrem Liedgut. Die Lieder in Žemaitija (Westlitauen) ähneln mit ihren Durtonarten und der Zweistimmigkeit zwar denen in Aukstaitija, doch sind ihre Rhythmen komplizierter, unstrukturierter und holprig wie die Sprache der Einwohner. Die Melodien klingen lang gezogen und manchmal chromatisch, außerdem enthalten sie oft Vorschlagsnoten. Daher ist es fast unmöglich, den wahren Charakter dieser Lieder in Notenschrift festzuhalten. In Žemaitija deckt das Liedgut nur wenige Themen ab und zeichnet sich durch überwiegend monolithische Melodien aus.

Obwohl Litauen aus vier ethnischen Hauptregionen besteht (Aukštaitija, Žemaitija, Dzūkija und Suvalkija), muss die Unterregion Kleinlitauen wegen ihres eigenständigen Liedguts gesondert erwähnt werden. Die hier lebenden evangelischen Lietuvininkai waren viele Jahrhunderte lang vom katholischen Litauen abgeschnitten, weil die Deutschen diesen kleinen Landstrich von Zemaitija um die Stadt Klaipeda herum erobert und Preußen zugeschlagen hatten. Dadurch entwickelte sich eine eigenständige, asketische Lebensweise, die geprägt war von der lutheranischen Religion und der Abhängigkeit vom Meer.

Auch in den Liedtexten, die von Fischern, Booten und dem Meer handeln, sowie in den klagenden einstimmigen Melodien spiegelt sich das harte Leben der Küstenbewohner wider. Leider gingen diese Lieder vor langer Zeit verloren und können nur durch Sammlungen aus dem 19. Jahrhundert rekonstruiert werden. Ihre Melodien sind erstaunlich subtil, ruhig und frei gestaltet, immer wieder tauchen unerwartete Tonartenwechsel und chromatische Elemente auf. Oft ist die Tonart nicht eindeutig, und im Variantenreichtum der Tonarten stellen die Lieder dieser Region sogar das Liedgut in Dzûkija in den Schatten. Im Stil ähneln die Melodien den der anderen Hauptregionen, woraus man schließen kann, dass diese Formen früher viel weiter verbreitet waren. Allerdings hört man in den Liedern Kleinlitauens auch deutlich den deutschen Einfluss.

In der Beschreibung der reichen Vielfalt litauischer Volkslieder bezogen wir uns hauptsächlich auf Lieder, die in der Vergangenheit aufgezeichnet wurden und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im Alltag gesungen wurden. Im ländlichen Litauen erinnern sich noch viele ältere Leute sehr gut an dieses traditionelle Liedgut, und noch heute werden die Lieder zu besonderen Anlässen gesungen und von Ethnografen aufgezeichnet und dokumentiert. Ländliche Folkloregruppen nehmen sie gern in ihr Repertoire auf, und Volksmusikliebhaber in den Städten lernen sie begeistert und singen sie nach. Auf diese Weise erhalten die Lieder auf Festivals und bei Feiern neues Leben.

Kulte

Das Hauptmotiv, das immer wieder bei der Beschreibung der heiligen Stätten auftaucht, ist Feuer. Priester hüteten auf Bergen oder an heiligen Stätten das ewige Feuer, es gibt auch Anzeichen, dass es sich hierbei um Vestalinnen handelte, vaidilutes, die entweder Jungfrauen oder Witwen waren. An heiligen Stätten gab es Brandplätze, wo Opfergaben verbrannt wurden.

Aufwendige Tempelbauwerke wurden nicht errichtet – wenn die heilige Stätte von Mauern umschlossen war, hatte sie nie ein Dach. Dies gilt für alle Gebäude der indo-europäischen Religionen. In der Beschreibung des Perkūnas-Tempels von Vilnius heißt es, dass dort Grasschlangen gehalten wurden, ein Feuer brannte, ein Abbild von Perkūnas in einer Nische stand und daneben ein pyramidenförmiger, zwölfstöckiger Altar, bei dem jede Etage einem anderen Sternzeichen gewidmet war. Auch dieser Tempel war nach oben hin offen.

Bei anderen Heiligen Stätten handelte es sich um einen Eichenbaum, einen Heiligen Hain, ein Heiliges Feuer, einen Steinhaufen, auf dessen Spitze das Feuer brannte o.ä. Selbst nach Einführung des Christentums opferten die Menschen noch auf Bergen, in Wäldern, unter Eichenbäumen oder auf bzw. neben als heilig angesehenen Steinen.

Viele christliche Feste und Feiertage haben heidnische Wurzeln. Im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts wurden die alten Götter dabei sogar noch namentlich erwähnt. So wurde die Sommer- und Wintersonnenwende gefeiert, Heiligabend (Kucios), Weihnachten (Kaledos), Neujahr und Heilige Drei Könige (Trys karaliai) erinnerten an den Totenkult, die Wiedererstehung und die Beeinflussung der Zukunft. Am Feiertag des Heiligen Johannes (Ilges, Rasa) wurde das Feuerritual ausgeführt, indem man große Feuer entzündete oder nach der Farnblume suchte, mit deren Hilfe man Schätze in der Erde finden konnte.

Fasching (Užgavenes) wird mit viel Lärm und Verkleidungen gefeiert, um den Winter fortzujagen, an Ostern werden Eier bemalt und gerollt, weil man glaubte, die Sonne gehe am Ostermorgen auf, rolle über den Himmel und hüpfe. Auch Allerheiligen und Allerseelen sind große litauische Feiertage, die auf die alten Rituale zurückgehen, bei denen man den Seelen der Toten Essen brachte oder sie zu sich nach Hause einlud.

So haben viele dieser Traditionen, in denen sich heidnischer und christlicher Glaube vermischen, bis zum heutigen Tag überlebt.

Schöpfungsmythen

Dieses Thema wurde bereits im Kapitel Folklore (Entstehungsmythen und andere mythische Schöpfer) angesprochen und soll an dieser Stelle nur um einige Fakten ergänzt werden.

In Litauen gab es keine „Heiligen Schriften“, da der Glauben sehr wahrscheinlich nur mündlich weitergegeben wurde. Der einzige Heldenmythos ist der Sovijus Mythos, der im 13. Jahrhundert niedergeschrieben wurde. Schöpfungsmythen sind in der Folklore aufgegangen, tragen aber in ihren Grundzügen noch Mythencharakter.

Die Erschaffung der Welt

In litauischen Schöpfungssagen war am Anfang der Welt nur Wasser, auf dem Dievas wandelte. In manchen Versionen erschuf er zuerst Velnias (der auch Liucius genannt wird) indem er ausspuckte oder zwei Steine aneinander rieb und Liucius aus den Funken entstand.

Die Erschaffung des Menschen

In den litauischen Schöpfungssagen heißt es manchmal, Dievas habe den Menschen aus Lehm geschaffen und ihm dann die Seele eingehaucht. Diese Version unterscheidet sich kaum von der in der Bibel, ist aber wahrscheinlich älter. Sie kommt so auch bereits in vorchristlicher Zeit in anderen Ur-Religionen vor, wie die Ähnlichkeit zwischen den Wörtern „Mensch“ und „Erde“ in vielen Sprachen beweist.

Götteraufteilung

In „Kronika Polska Litewska Zmodzka i Wszystkiej Rusi“ zählt Stryjkowski 1582 sechzehn litauische und samogitische Götter auf. Als höchsten Gott nennt er Prokorimos, was wiederum ein Anrufungsname ist, danach viele weitere Götter mit spezieller Funktion: Ruguczis, der Gott der eingelegten und sauren Speisen, Ziemennik, der Erdgott, dem zu Ehren man Grasschlangen mit Milch füttert, Kruminie Pradziu Varpu, für die Ernte zuständig, Lituwanis, der Regenbringer, Chaurirari, der Pferde- und Kriegsgott, dem man im Sattel huldigt, Sotwaros, der Tierpatron, Seimi Dewos, der die Familie beschützt, Upinis Dewas, der Flussgott, Bubilos, für Honig und Bienen zuständig, Dzidzis Lado, der große Gott (er ist evtl. der Gott, der auch mit dem Anrufungsnamen Prokorimos vertreten und daher doppelt aufgeführt ist), Gulbi Dziewos, der Mittler zur Welt der Satyr und Faune, Swieczpuscynis, der Gott des Federviehs, Kielu Dziewos, der Schutzpatron bei Reisen, Puschaitis, der Erdgott. Stryjkowski beschreibt auch, wie man jedem dieser Götter zu opfern hatte, meist mit Hühnern oder Gänsen vom Hof.

Bemerkenswert ist, dass diese Götter alle zum wirtschaftlichen oder familiären Umfeld eines Bauernhofs gehören und in keiner bestimmten Rangfolge stehen. Perkūnas dagegen ist gar nicht dabei. Jeder Gott hat seine bestimmte Aufgabe, die dem Bauern im Alltag dient, somit handelt es sich um ein Beispiel für eine typische Götterwelt der ländlichen Bevölkerung.

Jan Lasycki kommt in „De diis Samagitarum caeterorumque Sarmatarum et falsorum Christianorum“ von 1614 mit seiner Liste der samogitischen Götter sogar auf 76, die alle bestimmte Funktionen hatten und denen in bestimmter Weise geopfert werden musste. Viele Namen tauchen allerdings nie wieder woanders auf, sodass anzunehmen ist, dass es sich um Götter handelt, die nur regional begrenzt oder gar nur in einem Dorf oder von einer Familie verehrt wurden.

Diese Aufteilung der ursprünglich vier Götter in viele Gottheiten ist für den Niedergang einer Religion typisch. Das Christentum war in den ländlichen Gegenden nur äußerst oberflächlich verankert, es fehlten jedoch die heidnischen Priester, die vorher den ursprünglichen Glauben weitergegeben hatten. So entwickelte sich in jeder Region eine eigenständige Glaubensform, die einige Elemente von früher übernahm, sie aber veränderte, ausschmückte und den örtlichen Bedürfnissen anpasste. Das Wissen darum, welche Anrufungsnamen zu ein und demselben Gott gehörten, ging verloren, sodass sich daraus mehrerer Götter entwickelten, die den Gegebenheiten und Anforderungen des ländlichen Lebens entsprachen.

So tauchen auf Lasyckis Liste Percunas, Modeina, Zemyna und Tavvals auf (möglicherweise ein Überrest von Teliavelis). Als höchster Gott wurde Auxtheias Visagistis genannt, was möglicherweise wieder ein Anrufungsname ist. Es könnte auch sein, dass Aukštasis Visagalis oder Visagalisis der samogitische Name für den christlichen Gott war.

Žemepatis, Aušra und andere von Lasycki genannte Götter findet man auch in späteren Quellen (Zemina, Zemopacios, Ausca). Anderen Namen werden so eng gefasste Funktionen zugeschrieben, dass es sich dabei vielleicht nur um Geisterwesen handelt: Numeias kann man als Schutzpatron des Hauses interpretieren, möglicherweise sahen die Menschen in ihm aber auch nur einen Kobold. Weitere Namen auf der Liste sind Orthus, Pessias, Tiklis, Klamals usw. und es lässt sich oft nicht mehr genau feststellen, welche Aufgabe ihnen zugeschrieben wurde.

Pantheon-Quartett

Dass der Pantheon der litauischen Kriegerreligion aus drei Männern und einer Frau bestand, die allen drei als Gefährtin dient, ist eine Eigenschaft, die sich auch in anderen indo-europäischen Religionen findet – wie in Skandinavien mit Freya, in Indien bei den Asvin-Göttern, bei den Römern und den Germanen.

In der Litauischen und Samogitischen Chronik wird der Niedergang der Kriegerreligion erstmals erwähnt. Nach dem Verlust der Priesterklasse nahm der Glauben eine andere Form an, die alten Traditionen waren verloren, neue „magische“ Phänomene tauchten auf. Die Grundzüge des alten Glaubens lebten noch einige Generationen weiter, wurden jedoch nur mündlich und innerhalb der Familie weitergegeben, nicht mehr offiziell durch Priesterinitiierung. Dadurch verloren die Rituale und Glaubensgewohnheiten mehr und mehr ihre ursprüngliche Form und wurden immer mehr verwässert.

Götternamen

In den alten Quellen kommt es vor, dass ein- und derselbe Gott mit verschiedenen Namen belegt wird. So geht man davon aus, dass die Namen Nunadievis und Andajus denselben Gott, den ersten und höchsten der litauischen Götter, bezeichnen. Derselbe Fall liegt bei Diviriks vor, der wahrscheinlich mit Perkūnas identisch ist. Diviriks ist der ausführende Gott (Dievu rikis), sozusagen der Stellvertreter des höchsten Gottes, der in der litauischen Religion einen deus otiosus (neutralen, gleichgültigen Gott) darstellt.

Diviriks entspricht dem keltischen Gott Teutates, der auch Toutiorix genannt wird, der „Herrscher des Landes, der Bischof“. Auch in der keltischen Religion in schriftlichen Quellen haben Götter oft verschiedene Namen, von denen viele Eigenschaften oder Anrufungsnamen sind. So ist auch die Hauptgöttin des litauischen Götterreigens des 13. Jahrhunderts Medeina wahrscheinlich identisch mit Žvorūna der Hündin. Beiden werden Eigenschaften zugeschrieben, die mit der Jagd zu tun haben, Medeina könnte also eine Jagdgöttin gewesen sein. Žvorūna hatte die Gestalt einer Hündin, zveris bedeutet „Tier“, und man geht davon aus, dass es sich um eine Jagdhündin handelte. Medeina weist auf Bäume hin (medis = Baum), und das litauische Wort medziokle (jagen) zeigt die Verbindung von Jagen und Bäumen (= im Wald).

Es gibt mehrere Erklärungsansätze, warum Götter mit verschiedenen Namen belegt wurden: Der Name könnte je nach den Umständen, unter denen der Gott angerufen wurde, gewechselt haben, oder aber es gab in den verschiedenen Landesteilen regionale Namen für jeden Gott. Die wahrscheinlichste Begründung ist jedoch, dass der „wahre“ Name eines Gottes tabu war und nicht oder nur bei besonderen Anlässen ausgesprochen wurde – das ist auch aus anderen Religionen bekannt. Damit verband sich die Furcht, dass der wahre Name den Gott erscheinen lassen würde, oder auch einfach großer Respekt. Reste davon finden sich in der litauischen Folklore, in der Götter viele Namen haben: Perkūnas heißt auch Dundulis, Bruzgulis, Dievaitis, Grumutis etc, Velnias auch Kipšas, Pinčiukas, Vokietukas etc.

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