Teil II. Die Geschichte der Zivilgesellschaft


Geschichte von Litauen – Start

Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Übrigens, gab es diese Untergrundschulen nicht nur bei Litauern, sondern auch bei Polen, Weißrussen und Juden. Diese Schulen waren verboten und verfolgt, so dass sie nur im Geheimen agierten. Doch gerade dank dieser Schulen war Litauen Ende des 19. Jh. eine der gebildetsten Regionen Russlands, und die Litauer – eines der gebildetsten Völker des russischen Reiches.
Man irrt nicht, wenn man behauptete, dass die litauische Kulturgeschichte des 19. Jh. vor allem die Geschichte von Zweisprachigkeit ist. Viele bekannte litauische Persönlichkeiten dieser Zeit schrieben auf polnisch oder sowohl auf polnisch als auch auf litauisch. In der Anfangsperiode der nationalen Wiedergeburt wurde die litauische Literatur also auch in polnischer Sprache verfasst. Dass beste Beispiel für dieses Phänomen ist das Schaffen von Adam Mickievicz.
Eigentlich wurde bereits seit Ende 18. Jh. viel Literatur in litauischer Sprache herausgegeben. Die Hauptzielgruppe der litauischen Herausgeber war der wenig gebildete Bauer; deshalb wurden viele Gebetbücher, Fibeln, Kalender gedruckt. Eine neue Tendenz wurde dabei deutlich – das Verständnis, dass die litauische Sprache nicht nur die Sprache des Volkes, sondern die Sprache der Nation ist.
Als sich nach dem Aufstand von 1863 die Situation im Lande grundlegend änderte, als die Regierungsmacht den Druck in litauischer in polnischer Sprache (in lateinischer Schrift) in Litauen gänzlich verbot, als man versuchte der litauischen Sprache das russische Alphabet aufzuzwingen, wurden in Ostpreußen (Tilsit) litauische Bücher in lateinischer Schrift herausgegeben und illegal nach Litauen gebracht. Der illegale litauische Druck förderte jedoch auch die Verbreitung der litauischen Belletristik. In dieser Periode wurden die Grundlagen der litauischen Rechtschreibung gelegt.
Nach Wiedereinführung der lateinischen Schrift und nach der Verleihung der Bürgerrechte an Litauer änderten sich die Bedingungen des kulturellen Lebens in Litauen radikal. Die Möglichkeit zur Ausbildung der Kinder in ihrer Muttersprache, die Ausbildung eigener Lehrer, ein vielfältiges Theater- und Musikschaffen bedeutete einen großen Sprung im geistigen Ausdruck der litauischer Nation. Die Pflege des kulturellen Lebens auf den unterschiedlichsten Gebieten zeigte, dass in der Gesellschaft von Litauen grundlegende Veränderungen stattfanden. Litauen erlangte so seine Unabhängigkeit kulturell viel schneller als politisch. Wenn man über die Zivilisationsprozesse des 19. Jh. spricht, muss man noch ein weiteres wichtiges Moment erwähnen: im Land spielten die mehr oder weniger in die Gesellschaft integrierten Völker – Tataren, Karäer, Juden – eine große Rolle. Besonders die Letzteren waren nicht nur die zahlreichste, sondern die wirtschaftlich einflussreichste konfessionell- ethnische Gemeinschaft. Schon Ende des 18. Jh. lebten auf dem Territorium des Großfürstentums Litauen über 50.000 Juden, die sogenannten Litvaken. Nachdem die polnischen und die litauischen Gebiete an Russland angegliedert wurden, entstand hier die weltweit größte jüdische Konzentration. In den vierziger Jahren des 19. Jh. lebten im Westen des russischen Imperiums schon ungefähr 2 Mio. Juden. Natürlich musste die neue Macht darauf Rücksicht nehmen. Kurz gesagt, stieß Russland auf ein neues Problem, die sogenannte Judenfrage, die Integration dieses Teils der Gesellschaft in das Leben des Landes. Trotz der großen politischen Veränderungen lebte die jüdische Gemeinde immer noch sehr isoliert und machte den Eindruck eines „Volkes im Volk“. Leider erfolgte keine Integration, sondern eine Politik der Einschränkungen gegenüber den Juden. Die allgemeine Politik der Regierungsmacht Russlands bestand darin, die Juden von den Dörfern in die Städte und Städtchen zu vertreiben, indem man ihnen verbot, Höfe zu pachten, Gasthäuser („Kaschemmen“) zu unterhalten und Herbergen zu führen. Dort bildeten die Juden eine eigene Schicht mit eigener Verwaltung. Natürlich wuchsen mit dem Wechsel der Machthaber auch die Einschränkungen der Selbstverwaltung, bis sie in den vierziger Jahren schließlich ganz abgeschafft wurde.
Einen großen Schaden fügte das militärische „Besserungssystem“ der Juden, das von Nikolaj I. eingeführt wurde, der jüdischen Gemeinde in Litauen zu, die Juden wurden rekrutiert und in Kasernen „erzogen“. Trotz dieser Einschränkungen wird gerade das 19. Jh. als Renaissance der Juden Litauens gesehen. Gerade in diesem Jahrhundert erneuerte sich der jüdische Religionsgedanke und entwickelte sich ihre Weltanschauung und eine vielseitige intellektuelle Tätigkeit. Neben den damals wichtigsten jüdischen Kulturzentren in Warschau und Odessa zeichnete sich das Zentrum in Vilnius durch seinen besonderen Charakter aus. Hier gab es ein Modehaus, religiöse und weltliche Schulen in hebräischer und jiddischer Sprache, es wurden Tageszeitungen, Zeitschriften, Lehrbücher, religiöse Schriften und Belletristik herausgegeben (1799–1915 gab es in Litauen 258 Druckereien, von denen 190 in jüdischer Hand waren). Seit Anfang des 19. Jh. wurden Juden zum Studium an der Universität Vilnius zugelassen. In Vilnius gab es das einzige Lehrerinstitut für Juden in Russland.
Einen großen Einfluss auf die jüdische Kultur und besonders auf die Literatur hatten die Bewegung des religiösen Chassidismus, die in den von Polen regierten Gebieten Podolsk und Volyn (Wolin) entstand und die aus Deutschland kommende Aufklärungsbewegung der Haskala. In dieser Periode tauchten einige berühmte Persönlichkeiten auf, die die Grundlagen für den neuen geistigen und moralischen Aufschwung der jüdischen Nation vorbereiteten. Eine besondere Rolle übernahm in diesem Aufschwung der größte Gaon dieser Zeit – Elijahu Ben Shalom aus Vilnius. Im 19 Jh. wurden in Litauen weltbekannte jüdische Intellektuelle ausgebildet, es wurde Literatur in Jiddisch geschrieben, der wichtigsten Umgangssprache der Juden.
Obschon die litauischen Juden ein untrennbarer Teil des osteuropäischen Judentums waren, unterschieden sie sich von den anderen durch ihre strenge jüdische Lebensart und ihren litauisch-deutschen Dialekt des Jiddischen. Ihr Platz in der jüdischen Welt wurde sehr deutlich, und ihr geistiger Einfluss reichte weit über die Grenzen von Litauen hinaus. Dies galt weder für die dem Islam zugetanen Tataren noch für die dem Judaismus treuen Karäer. Doch auch das kulturelle Leben dieser Völker im 19. Jh. wurde durch die gleiche politische Situation in Litauen bestimmt, bildlich gesprochen, durch das Leben unter der Macht des Zaren.

Teil I. Die Geschichte der Zivilgesellschaft

Suche