Teliavelis

Teliavelis ist der Schmied, der die Sonne aus glühendem Eisen schmiedete und sie hoch in den Himmel warf. Er wird jedoch nicht als himmlischer Gott angesehen, sondern als der Unterwelt zugehörig und hat somit den Gegenpart zu Dievas. In der litauischen Folklore heißt es eindeutig, dass das Schmieden ein Handwerk der Teufel war und erst später von den Menschen gelernt wurde.

Der Name Teliavelis lässt sich verschieden herleiten – der Gott der Straße, der Gott der Herden (telias = Kalb), Erdgott (tel = Erde) oder aus der skandinavischen Mythologie (Tialfi). Der zweite Wortteil vel, seine Tätigkeit als Schmied und seine Position am Ende aller Aufzählungen in den alten Quellen weist jedoch auf seine Verwandtschaft mit dem alten litauischen Velnias oder Velinas, dem Teufel des Volksglaubens, hin. Velnias konnte im Pantheon der herrschenden Klasse nicht auftauchen, da er ja ein Gegenspieler des mächtigen Perkūnas ist – möglicherweise trat Teliavelis an seine Stelle, um die Rolle auszufüllen. Nach der Christianisierung wurde dem christlichen Teufel der Name Velnias gegeben, doch Teliavelis repräsentierte einfach die Unterwelt, die genauso ein Teil des Universums war wie die himmlischen Sphären (wie der Hades in der griechischen Mythologie).

Die Tatsache, dass Teliavelis die Sonne schmiedete und an den Himmel warf, zeigt jedenfalls deutlich, dass es in Litauen nie einen Sonnenkult gab, bei dem die Sonne einen Gott repräsentiert. Für die Litauer (wie übrigens auch für den griechischen Philosophen Anaxagoras) war sie einfach nur ein Klumpen glühenden Metalls.

Perkūnas

Während Dievas den höchsten Gott darstellt, ist Perkūnas der wichtigste. Er wird bereits im 13. Jahrhundert erwähnt und war auch in Preußen als Percunis und in Lettland als Perkons bekannt. Ähnlichkeit besteht auch zum russischen Perun, dem Hauptgott der Hätiter Pirva, zur indischen Regen- und Sturmgöttin Parjanya und der germanischen Version Toro Porr. Die Herkunft des Namens Perkūnas lässt sich nicht eindeutig ableiten. Möglich wären von lateinisch quercus = Eiche (dem Baum des Perkūnas), aber auch von „schlagen“, litauisch smogti oder perti und musti.

In alten Quellen wird Perkūnas auch als Diviriks bezeichnet. Seine Tempel und heiligen Stätten werden mit Feuer und dem sogenannten Feuerkult in Verbindung gebracht. Im 13. Jahrhundert war er zunächst ein Gott der Krieger. In einer Version der Lyvonischen Chronik heißt es, dass litauische Krieger die gefrorene Bucht von Riga überquerten und Perkūnas ihnen dabei half. Hier übernimmt der Kriegsgott bereits die Herrschergewalt über das Wetter. In der Folklore wird er meist als kriegerisch, jähzornig und mit einer Axt, einem Messer oder Pfeilen bewaffnet dargestellt, mit denen er den Velnias oder böse Geister bekämpft. Auch wird hier seine Bedeutung als Wettergott hervorgehoben, der zwischen Himmel und Erde in den Wolken lebt und über Blitz und Donner gebietet. So steht er im Zentrum des Universums und herrscht über die Atmosphäre, während der Machtbereich des Velnias eher die Erde, das Wasser und die Unterwelt sind. Er fährt in einem zweirädrigen Wagen, dem zwei Ziegen oder Pferde vorgespannt sind, durch den Himmel. Donner wird als das Geräusch der Räder interpretiert. Der höchste Gott Dievas hat Perkūnas den Auftrag und die Macht gegeben, den Teufel oder Dämonen zu jagen, es heißt aber auch oft, dass diese Feindschaft auf persönlichen Gründen beruht, zum Beispiel weil der Teufel Perkūnas bestohlen oder beleidigt hat oder ihm eine Frau ausspannte.

Zusätzlich tritt Perkūnas als Fruchtbarkeitsgott auf, da er mit dem ersten Frühlingsgewitter dafür sorgt, dass das Gras sprießt und die Saat aufgeht. Auch in Hochzeitsritualen spielt er eine Rolle. Darin ähnelt er mehr dem westsemitischen Gott Baal als dem skandinavischen Donnergott Thor. Eine weitere seiner Aufgaben besteht darin, für Gerechtigkeit zu sorgen, indem er böse Menschen bestraft und die göttliche Ordnung wiederherstellt.

Dievas

Der Wortstamm des litauischen höchsten Gottes Dievas findet sich auch in vielen anderen Sprachen als Name einer Gottheit (Deywis, Deiws, lateinisch Deus). Alle diese Namen leiten sich vom indoeuropäischen Wort deiuos ab, das aus deva = Gott und dyaus = Himmel gebildet worden war und den göttlichen Himmel, die höhere Instanz bedeutete. Diese Ähnlichkeit findet man zum Beispiel auch im Lateinischen (deus = Gott, dies = Tag). Gleichzeitig besteht eine Wortverwandtschaft des baltischen Dievas, Dievs, Deivs zum griechischen Zeus, zum luvischen Tiwat, dem germanischen Tivaz, zum finnischen taivas und estonischen taevas für „Himmel“.

Auch bei den Eigenschaften des baltischen Dievas gibt es Gemeinsamkeiten mit anderen indogermanischen Religionen: Er wohnt im Himmel, ist verbunden mit den leuchtenden Himmelskörpern und bestimmt das Geschick des Menschen. Allerdings hat der litauische Dievas in den Entstehungsmythen auch eine sehr konkrete und bodenständige Form: Er tritt als sehr alter Mann auf, der graue Haare hat und gebeugt geht. Dieses Bild erscheint in sich schlüssig, ist der Schöpfergott doch der älteste Gott von allen und das älteste Lebewesen auf der Erde. Eine Besonderheit des litauischen Gottes besteht darin, dass er etwas ungeschickt ist. So stößt er sich den Zeh an einem Stein oder wird von einem Hund abgehängt, den er einfangen will. Oft erscheint er als komisch oder gar lächerlich, doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen, denn hilflos oder gar machtlos ist er nicht.

Wie im Kapitel „Erzählte Folklore“ bereits beschrieben, nimmt der Schöpfergott in den Mythen oft Menschengestalt an und verrichtet alltägliche Dinge, die ihn mit dem ländlichen Leben verbinden oder aus denen sich heutige Umstände erklären: der Stein, an dem er sich stößt, wird nicht größer, wo er hintritt, entsteht etwas etc.

So klopft er zum Beispiel auch als Landstreicher an die Türen der Häuser. Wer ihn einlässt und bewirtet, wird reich belohnt, wer ihn abweist, in ein Schwein, einen Bären, einen Wolf, einen Hund oder ein anderes Tier verwandelt. So stellt er die Einhaltung ethischer Grundsätze sicher, wobei seine Bestrafungen außergewöhnlich hart ausfallen. Darin ähnelt er dem indischen Gott Varuna aus der Rigveda-Periode, während die Eigenart, dem Menschen verkleidet oder in anderer Form zu erscheinen, auch bei dem indischen Gott Avatar oder dem griechischen Zeus vorkommen. Diese Verschmelzung von Eigenschaften fremder Götter zu einem neuen Götterbild ist für viele indo-europäische Religionen typisch.

Christlich geprägte Schöpfermythen

Die Charaktere aus dem Neuen Testament (Maria, Jesus und Petrus) sind jedenfalls jünger als die traditionellen Darstellungen von Gott und velnias. In einigen Sagen haben Maria und Jesus Gott ersetzt, während velnias Rolle von Petrus übernommen wurde, doch der Inhalt blieb relativ unverändert. So kommt es, dass Petrus kein positiver Charakter ist und den Narren gibt.

Einige Beispiele: Gott gab dem Mann Überlegenheit, doch Petrus wollte sie den Frauen zusprechen. So kam es, dass eine Frau ihn verprügelte und ihm die Haare ausriss, weshalb er jetzt eine Glatze hat.

Gott befahl Petrus, eine alte Frau und einen velnias zu trennen, die miteinander kämpften. Petrus schlug ihnen die Köpfe ab – und als er versuchte, sie wieder anzubringen, verwechselte er sie.

Gott befahl Petrus, den Menschen Regen zu bringen, wenn sie darum bitten, doch Petrus gab ihnen Regen während der Heuernte.

Als Ergebnis der Handlungen von Gott, velnias und den anderen Charakteren nimmt die Welt ihre heutige Form an, was am Ende immer erwähnt wird. „Seit dieser Zeit ist die Sonne nur noch tagsüber zu sehen und der Mond und die Sterne scheinen nachts.“ „Und so steht die Sonne bis heute am Himmel.“ „Und deshalb hat der Strandläufer heute keinen Schwanz, und die Bachstelze fliegt umher und präsentiert stolz ihre Schwanzfedern.“ Am Ende eines Schöpfungsmythos steht somit immer eine geordnete, vollständige Welt, auch wenn sie nicht im Detail beschrieben wird.

Andere mythische Schöpfer

Sagen mit Gott und velnias sind die beliebten „Klassiker“ unter den litauischen Schöpfungsmythen, es gibt jedoch auch welche, in denen personifizierte Himmelskörper (Sonne, Mond, Erde), Perkunas (der Donnergott und mystische Schmied), der Riese Spjudas, der erste Mensch Adam, Noah, Maria (die Gottesmutter), Jesus, die Heiligen, normale Menschen, wilde Tiere, Nutztiere, Vögel und Pflanzen vorkommen. Je nach Geschichte handeln sie bewusst und zielstrebig oder auch nicht.

Einige Beispiele: Perkunas sehnte sich nach Licht, verbrachte sechs Jahre damit, die Sonne zu schmieden, stieg auf das Dach des höchsten Hauses und warf sie an den Himmel.

Sonne und Mond lagen im Streit um die Erde, deshalb entschied Perkunas, dass die Sonne ihre Tochter Erde bei Tag beschützen solle und der Mond bei Nacht.

Um ein faules Pferd zu bestrafen, entschieden Maria und Jesus, dass es immer grasen und doch nie satt werden solle. Sie dankten dem Haselbusch, indem sie ihm herunterhängende Zweige schenkten, sie belohnten einen guten Bauern, indem sie seine Handschuhe in eine Katze verwandelte, die für ihn die Mäuse jagte.

Als Adam spazieren ging, entstanden aus seinen Fußstapfen Berge, doch wo er nicht hintrat, Sümpfe und unfruchtbares Land.

Als ein Band um ein Fass Noahs brach, verwandelte es sich in den Regenbogen.

Die Sonne fiel von einem Esel, versuchte sich an den Ohren festzuhalten und zog sie dabei lang, außerdem hinterließ sie einen Streifen auf seinem Rücken.

Da all diese Charaktere dieselbe Funktion erfüllen wie Gott und velnias, lässt sich ihre gemeinsame Abstammung leicht herleiten. Die personifizierten Himmelskörper, Perkunas, der Schmied, und der Riese Spjudas gehören alle zu einer frühen Periode der Mythologie, die vom Christentum nicht berührt wurde. Sie sind damit möglicherweise noch älter als die Sagen mit Gott und velnias. Allerdings gibt es nur sehr wenige Aufzeichnungen dieser vereinzelten archaischen Mythen, und ihre Authentizität ist nicht belegt. Möglicherweise wurden sie erst später unter Verwendung der alten Bilder geschaffen.

Gott und velnias

Dies ist der Anfangszustand der Welt, der Ausgangspunkt ihrer Entwicklung, der in den Entstehungsmythen manchmal beschrieben und manchmal nur angedeutet wird. Es ist die Bühne, auf der zwei Schöpfer – Gott und velnias, der Teufel – die heutige Welt formen. Gott erschafft dabei alles, was nützlich und schön ist, der Teufel alles Schädliche und Hässliche. Gott macht die Erde glatt, velnias ist verantwortlich für zerklüftete Gegenden, Berge und Sümpfe. Gott formt einen gesunden Menschen, velnias gibt ihm Krankheiten. Gott schafft nützliche Tiere, velnias den Wolf. Gott sät Bäume und Nutzpflanzen, velnias Steine. Gott handelt bewusst und zielgerichtet, während velnias ihn nur imitiert und dabei nie das erreicht, was er beabsichtigt hatte. Auch velnias will einen Vogel machen, der den Bauern bei der Arbeit auf dem Feld erfreut, doch während Gott die Lerche schafft, kommt bei velnias nur eine Kröte heraus.

Der Gott der litauischen Entstehungsmythen ist erdverbunden und krempelt die Ärmel selbst hoch. Er rudert in einem Boot über die Ursuppe und verrichtet alltägliche Arbeiten – er schneidet Heu, baut Ställe, macht Feuer und wäscht sich das Gesicht. Selbst bei der Erschaffung der Welt, die nicht wie in der Bibel als übernatürliche, mysteriöse Handlung, sondern als Alltagsaufgabe beschrieben wird, verliert er nie seine Bodenständigkeit.

Gott sät Ackerland oder schafft es aus dem Staub, den velnias ihm bringt. Er formt den Menschen aus „reinem Ton“. Nachdem er die Tiere kreiert hat, gibt er ihnen Augen und Namen und sagt ihnen, wo und wie sie leben sollen und wem sie zu gehorchen haben. Er färbt die Federn der Vögel mit Pinsel und Palette. Diese Beschreibung des höchsten Wesens als Handwerker gibt seinem Bild Wärme und Menschlichkeit. Dennoch strahlt er in den meisten Entstehungsmythen etwas Majestätisches aus, das ihm durch seine Weisheit, seinen Scharfsinn und seine kreative Kraft verliehen wird. Außerdem ist er die höchste Instanz der Gerechtigkeit. Er bestraft die Prahler, Faulen, Gierigen und belohnt die Fleißigen und Rechtschaffenen. Somit ist er ein Volksheld, um einen Begriff aus der Volkskunde zu benutzen.

Doch auch velnias wird nicht als böse dargestellt, sondern als komisch. Er will Gott imitieren oder sogar töten, doch er ist dumm, unfähig und verfügt nicht über dessen kreative Schöpferkraft. Sein wiederholtes Scheitern beim Versuch, etwas Großes zu schaffen, und das Verhältnis von eingesetzten Ressourcen zum Ergebnis sorgen für Komik. Dennoch behält der velnias der Entstehungsmythen Züge, die seine göttliche Herkunft und Wesensähnlichkeit zum Volkshelden zeigen. Manchmal wird er sogar selbst als Gott bezeichnet. Um Heu zu machen, benutzt er eine Sense, die nicht einmal der Schöpfer besitzt, und er kann Eisen schmieden, was ihn zu einer Art Schutzpatron der Handwerker macht.

Die beiden Hauptcharaktere der litauischen Schöpfungsmythen unterscheiden sich grundlegend von denen der christlichen Lehre, auch wenn sie wie dort in „gut“ und „böse“ aufgeteilt sind. Ihr Ursprung reicht auf die viel ältere heidnische Mythologie zurück. Das Bild eines einfachen, bäuerlichen Gottes stammt ganz offensichtlich nicht aus der Bibel (wo es so gar nicht vorkommt), sondern aus der Zeit der ersten sesshaft gewordenen Bauern, deren harten Daseinskampf es spiegelt. Ein solcher Schöpfer kommt nicht nur in der Sagenwelt der indogermanischen, sondern auch vieler anderer Völker vor und nimmt manchmal auch Tier- oder Vogelgestalt an.

Der litauische Schöpfergott und sein Gegenspieler velnias ähneln in Art und Handlungsweise dem mystischen Wasserkind der amerikanischen Ureinwohner, ihrem Kojoten und Raben. Auch velnias hat dabei kaum etwas mit dem Teufel der Bibel gemeinsam. Der litauische velnias ist ein Narr oder Spaßmacher (der manchmal ebenfalls zum Volkshelden wird), so wie der Kojote der amerikanischen Ureinwohner, die Spinne bei afrikanischen Stämmen und der maui bei den Polynesiern. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in den Sagen primitiver Kulturen keine dualistische Teilung in gut und böse vorkommt. So tritt der Kojote in Sagen der amerikanischen Ureinwohner sowohl der Held als auch als Narr auf.

Übernatürliche Wesen in Sagen

Auf jeden Fall wird in der Sage der Mensch vom übernatürlichen Wesen, das eindeutig nicht-menschlich ist, in den Schatten gestellt. Es wird bis ins kleinste Detail in seinem ganzen Schrecken oder Glanz beschrieben, selbst, wenn es eine einfache oder alltägliche Verkleidung gewählt hat. Die Bandbreite ist groß: Da gibt es laumes – einfache Landelfen, die Kinder mit großen Köpfen und Augen haben –, den Jäger Perkunas, der auch der Gott des Donners ist, aitvarases – heinzelmannartige Geister, die Reichtum bringen –, Zauberer und natürlich den velnias, der dem Teufel entspricht.

Manchmal geht es in der Sage nur darum, diese Wesenheiten und ihre Handlungen zu beschreiben: laumes waschen ihre endlosen Leinenstücke in Seen, spinnen und weben, beschenken, entführen oder töten Kinder. Laimes, die Glücksgöttinnen, bestimmen das Schicksal Neugeborener. Aitvarases bringen gestohlenes Getreide, Geld oder Milchprodukte zu ihren Herren, Hexen fügen Menschen, Tieren oder der Natur Schaden zu und fliegen zu ihren Hexentreffen, Zauberer helfen verhexten Menschen usw. In litauischen Sagen treffen selten zwei übernatürliche Wesen aufeinander, meist ist es ein Mensch, der mit ihnen in Berührung kommt.

Dabei unterscheidet sich das Selbstverständnis des Menschen gegenüber der mythologischen Welt in Märchen und Sage grundsätzlich. Im Märchen sind Begegnungen mit übernatürlichen Wesen wie Perkunas, velnias, giltine (dem personifizierten Tod), sprechenden Tieren oder gar der Sonne nicht außergewöhnlicher als mit anderen Menschen und bergen keinen Schrecken in sich. In Sagen dagegen wird die mythologische Welt als Bedrohung dargestellt. Man versucht, eine solche Begegnung zu vermeiden, weil sie meist negative Folgen hat. Das angenehme Gruseln, das beim Zuhören wegen des Realitätsbezugs und der Identifizierungsmöglichkeiten entstand, war durchaus erwünscht, unterschied es sich doch positiv von der traumatischen Erfahrung echter Angst. Und selbst heute, im Zeitalter der intellektuellen Aufklärung, kann man sich der Wirkung von Sagen nicht völlig entziehen.

Besonders wertvoll ist auch die kulturhistorische Bedeutung von Sagen, geben sie doch Einblick in die Weltanschauung, die sozialen und kulturellen Strukturen sowie die spirituellen Glaubensrichtungen eines Volkes in früheren Zeiten.

Nehmen wir als Beispiel die bekanntesten Sagen über laumes. Das Bild der laume formte sich in einer landwirtschaftlichen Hochkultur, was sich durch das menschenähnliche Erscheinungsbild der laume und ihrer mit dem Bauernstand verbundenen Handlungen zeigt (Spinnen und Weben von Flachs, Waschen von Leinen). Die Vorgeschichte dieser Figur ist lang und kompliziert. Man kann sich heute nur noch schwer vorstellen, dass die laume einem personifizierten bedrohlichen Naturelement entspringt (in diesem Fall Wasser), das die frühen Menschen zähmen und nutzbar machen wollten. In Laume-Sagen spiegelt sich daher einerseits die Unvorhersehbarkeit und Gefahr eines Naturelements, andererseits die menschliche Fähigkeit, diese Kraft positiv zu nutzen. Wie die meisten indogermanischen Wassergeister beeinflussen auch die laumes Ernte und Fruchtbarkeit.

Das Bild des aitvaras dagegen entstand später, als sich die Clangesellschaften aufzuspalten begannen und erste soziale Unterschiede entstanden. Daher steht der aitvaras für soziale Einflüsse, nicht für Naturgewalten. Aitvaras-Sagen prangern oft unmoralisches Handeln an – wie andere Menschen auszunutzen, sich auf ihre Kosten zu bereichern und allgemein geldgierig zu sein.

Die litauischen laumes haben viele Gemeinsamkeiten mit den keltischen Elfen und den Schicksalsgöttinnen der Balkannationen. Die aitvaras ähneln den fliegenden Drachen der iranischen Sage. Daraus lässt sich schließen, dass die baltischen Völker Kontakt zu den Kelten hatten, als die laume-Sagen entstanden, und sich indirekt oder direkt mit Iranern austauschten, als der aitvaras geboren wurde. Natürlich bestehen auch viele Gemeinsamkeiten mit slawischen, germanischen und ugrofinnischen Sagen. Dennoch hat die litauische Sagenwelt einen definitiv eigenständigen nationalen Charakter, der sich von dem der benachbarten Länder unterscheidet.

So findet man in litauischen Sagen keine gefährlichen Waldgeister wie bei den Russen und Germanen, keine kriegerischen vilas wie in Bulgarien und keine Zwerge, die in den Bergen wohnen, wie in der Schweiz. Litauische Sagen reflektieren das flache, gleichförmige Land und den bäuerlichen Lebensstil. So stellt auch die laume einen weitaus bodenständigeren Wassergeist dar als in anderen Ländern, und aitvaras ist viel häuslicher als wohlstandsbringende Geister anderswo. Hexen und Zauberer wenden ihre Künste meist auf Nutztiere an usw.

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