Im Rahmen von Hitlers ideologisch-rassistisch-machtpolitischer Weltanschauung kam den baltischen Staaten keine Bedeutung sui generis zu. Vielmehr firmierten sie langfristig als Areal zur Ausdehnung der ‚arischen Herrenrasse‘, kurzfristig als Objekt taktischer Schachzüge, wie der Hitler-Stalin-Pakt in aller Deutlichkeit zeigen sollte. Die aufgrund der sowjetischen Unterstützung in der Wilnafrage gegebenen relativ guten Beziehungen von Kaunas nach Moskau standen im Gegensatz zu der scharfen verbal-propagandistischen Konfrontation zwischen Hitler und Stalin. Dem litauischen Außenminister Lozoraitis wurde dieser Sachverhalt von seinem deutschen Kollegen von Ribbentrop im Juni 1938 in drohendem Unterton klargemacht: „Unsere Einstellung zu den östlichen Nachbarn sei abhängig von deren Einstellung zum bolschewistischen Rußland… Litauen sei…immer als ein Freund der Sowjetunion erschienen.“ (6) Für Hitler selbst stand eine gewaltsame Lösung der Memelfrage bereits 1935 fest, wie er im Gespräch mit dem deutschen Generalkonsul in Memel Sauken zu erkennen gab. Zur Zeit wolle er allerdings aus „Rücksicht auf die gesamte Außenpolitik“ noch nichts unternehmen, daher sei es vorerst am besten, „die Memelfrage auch weiterhin als ‚offene Wunde‘ zu behandeln“. (7)
Litauens Situation in Memel war verzweifelt. Zum einen war es nicht gelungen, einen Rückhalt in der Bevölkerung, ob nun memeldeutsch oder kleinlitauisch zu finden (was, wie erwähnt, vor allem in den Wahlergebnissen zum memelländischen Landtag zum Ausdruck kommt), zum anderen bot das litauische Vorgehen vielfältige Angriffsmöglichkeiten von deutscher Seite durch die Berufung auf das Memelstatut, und zum dritten war es unmöglich, der vielschichtigen nationalsozialistischen Propaganda und Einwirkung Einhalt zu gebieten.
Hinzu kam eine bedrohliche politische Isolierung: Im März 1938 erzwang Polen durch ein Ultimatum mit Kriegsandrohung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Kaunas, die von Litauen wegen des Wilnakonfliktes 20 Jahre lang abgelehnt worden waren. Weder die Sowjetunion noch das Deutsche Reich waren bereit, den litauischen Anfragen nach Unterstützung zu entsprechen. Kühl replizierte von Ribbentrop, er halte das Ultimatum „für sehr maßvoll“ und rate „zu einer bedingungslosen Annahme“. (8) Insgeheim plante man im Falle eines heißen polnisch-litauischen Krieges die sofortige militärische Besetzung des Memelgebietes und weiterer Teile Litauens.
Im März 1939 war es dann soweit. Von einer ‚freiwilligen‘ Rückgabe des Gebietes durch Litauen, wie teilweise immer noch bzw. schon wieder in manchen deutschen Publikationen behauptet, kann freilich keine Rede sein. Litauen wurde unter massiver, ultimativer Kriegsdrohung gezwungen, seine Rechte in Memel aufzugeben. Nichts zeigt dies deutlicher als das erste Kommuniqué der litauischen Regierung, in der sie auf die Verletzung des Versailler Vertrages, der Memelkonvention und die Nichthinzuziehung der Signatarmächte hinwies. Berlin reagierte sofort: Staatssekretär von Weizsäcker sprach in einem Telephongespräch mit Kaunas vom „Versuch…, die internationale Öffentlichkeit und die Regierungen aufmerksam zu machen und ins Gefecht zu ziehen. Das würde der Litauischen Regierung schlecht bekommen, ich möchte sie daher dringend warnen.“ (9) Um weitere Mißverständnisse zu vermeiden, lieferten die Deutschen Kaunas den Text eines ihnen genehmen Kommuniqués gleich mit.
Litauische Sondierungen bei den Westmächten waren erfolglos. Geradezu zynisch klingt die Antwort der britischen Regierung, in der London seine ‚Sympathie‘ für Litauen ausdrückte, ansonsten aber riet, die deutschen Forderungen anzunehmen. Mit Estland und Lettland bestand zwar seit 1934 eine Entente, die aber ausdrücklich die Memel- und Wilnafrage ausschloß, so daß die beiden anderen baltischen Staaten den deutschen Schritt ohne jegliche Reaktion hinnahmen. Am 23. März 1939 hielt Hitler seinen triumphalen Einzug in die Stadt an der Dange.

(6) ADAP D:, Bd., Nr. 346.
(7) ADAP C: Bd. IV,2, Nr. 378 (23. November 1935).
(8) Vgl. ADAP D:, Bd.V, Nr.322. „Ich lehnte den Vorschlag, im polnisch-litauischen Konflikt zu vermitteln, ab und erklärte Herrn Gesandten Šaulys, daß Deutschland hierzu keine Veranlassung habe.“
(9) Vgl. ADAP D:, Bd. V, Nr. 403.

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