Die Besatzungsmacht ließ einen aus litauischen Vertretern bestehenden ‚Vertrauensrat‘, die Taryba, gründen. Er sollte keinerlei staatsrechtliche Befugnisse oder Autonomie besitzen, die Militärs sahen ihn gar als bloßes Anordnungsorgan für die litauische Bevölkerung. Die Taryba bestand aus 20 Personen, viele ihrer Mitglieder, wie etwa Antanas Smetona, sollten später eine bedeutende Rolle spielen. Das deutsche Kalkül sah vor, die Taryba als legitimatorisches Organ für die litauische Nation zu benutzen. Zunächst schien das Spiel auch aufzugehen: Am 11. Dezember 1917 erklärte die Taryba pflichtschuldigst nicht nur die Souveränität Litauens, sondern auch den engen Anschluß des Staates an das Deutsche Reich. Für ewig sollte eine militärische Allianz geschlossen, eine Zoll- und Münzunion eingeführt werden; insgesamt können die deutschen Planungen nur als ‚indirekte Annexion‘ bewertet werden. Hatte man im Rat gehofft, auf dem Verhandlungswege deutsche Zugeständnisse zu erreichen, so erwiesen sich diese Überlegungen als falsch. Deshalb entschloß sich die Taryba zu einem spektakulären Schritt, dessen Jahrestag heute in Litauen wieder Nationalfeiertag ist: Am 16. Februar 1918 wiederholte man die Unabhängigkeitserklärung mit signifikanten Änderungen; es war keine Rede mehr vom ewigen Bündnis mit Deutschland, man sprach von einer ‚demokratischen Grundlage‘ des zukünftigen Litauen und behielt die Entscheidung über die Staatsform einer Nationalversammlung vor. Die Deutschen reagierten scharf und forderten die Rückkehr zur Erklärung vom 11. Dezember, was zu einem langwierigen Meinungsaustausch führte, nicht aber zur substantiellen Rücknahme der Aussage vom 16. Februar. Damit hatte sich die Taryba als eigenständiges Organ legitimiert; sie war zum – auch in den Kreisen der Exillitauer anerkannten – Nucleus des zukünftigen Staates geworden.

Der Rest des Jahres 1918 verging mit der Auseinandersetzung, welche der beiden Erklärungen verbindlich sei. Im Frühjahr erkannte Kaiser Wilhelm II Litauen als eigenständigen Staat an, nahm jedoch expressis verbis auf die Dezemberdeklaration Bezug. Während das Deutsche Kaiserreich kurz vor dem Abgrund stand, geriet die litauische Frage zu einer Farce. Da die Deutschen massiv die Monarchie als einzig denkbare Staatsform ins Gespräch brachten, entwickelte sich ein Konkurrenzkampf deutscher Fürstenhäuser um den noch nicht existierenden litauischen Thron. Beteiligt waren die Dynastien der Württhemberger, Sachsen und natürlich das Haus Hohenzollern. Es lohnt nicht, auf diese Episode weiter einzugehen, obwohl der aussichtsreichste Prätendent bereits begonnen hatte, Litauisch zu lernen. Als sich mit der Regierung Max von Baden die Demokratisierung des Reiches abzeichnete, konnten die Litauer auf profilierte Parlamentarier wie Matthias Erzberger und Philipp Scheidemann hoffen, die einer wirklichen Unabhängigkeit des baltischen Staates das Wort redeten. Am 2. November 1918 widerrief die Taryba das im Sommer notgedrungen gegebene Einverständnis mit einer monarchischen Lösung; wenige Tage später ging das Deutsche Kaiserreich endgültig unter: Der Weg zur selbstbestimmten Unabhängigkeit war frei.
Die nächsten Monate und Jahre waren gekennzeichnet durch Wirren und Unsicherheiten auf beiden Seiten. Was sich 1920 abzeichnete, nachdem die baltischen Staaten die Bedrohung durch deutsche Truppen und Freikorps sowie durch die Rote Armee in teilweise heftigen Kämpfen abgewehrt hatten, war zum einen der vorläufige Sieg der parlamentarischen Demokratie in Litauen, zum anderen ein neuer Konflikt: Polen versuchte während der Friedensverhandlungen in Paris seine alte Hegemonialstellung über Litauen wiederzuerlangen. Der polnisch-litauische Gegensatz kumulierte im Streit um das Wilnagebiet, das im Oktober 1920 handstreichartig von polnischen Truppen besetzt wurde, während Litauen Vilnius als seine rechtmäßige Hauptstadt beanspruchte.

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