Die kleinlitauische Minorität weckte nicht nur wissenschaftliches Interesse am Litauischen, was am deutlichsten in einem entsprechenden Lehrstuhl an der Universität Königsberg zum Ausdruck kam, sondern sie war auch die Keimzelle eines litauischen Nationalgefühls. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte an der deutsch-russischen Grenze ein eifriger Schmuggel von litauischsprachiger nationaler Literatur. Diese Bücher und Broschüren wurden fast alle in Tilsit gedruckt; offensichtlich mit stillschweigender Duldung der deutschen Behörden, war man doch in Berlin an einem durch Nationalitätenkonflikte geschwächten Zarenreich durchaus interessiert. Jedenfalls läßt sich festhalten, daß bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges das Traumziel eines souveränen litauischen Staates bereits tiefe Wurzeln geschlagen hatte.
Im Sommer und Herbst 1915 eroberten deutsche Truppen das ‚Nordwestgebiet‘. Damit geriet Litauen nicht nur unter direkte deutsche Herrschaft, sondern auch in den Konflikt widerstrebender Konzeptionen der deutschen Ostpolitik. Besonderen Einfluß hatte dabei zunächst die militärische Führung der Ostfront, denn die Oberbefehlshaber Hindenburg und Ludendorff etablierten eine Militärverwaltung und gaben der eroberten Region den Namen ‚Land Ober-Ost‘. Die Besatzung hinterließ bei den Litauern durchaus negative Eindrücke. Zwar bemühte sich die deutsche Verwaltung mit Erfolg, das Schulwesen auszubauen, aber böses Blut machte der Beschluß, ab der zweiten Klasse obligatorisch Deutsch lernen zu müssen. Die wirtschaftliche Ausbeutung und Requirierung taten ein übriges. Besonders belastend für das gegenseitige Verhältnis war die Aufstellung litauischer Arbeitsbataillone, die schlechtbezahlt Schwerstarbeit leisten mußten.

Wie sahen die deutschen Pläne für die Zukunft Litauens aus? Zunächst ist festzuhalten, daß die vielfältigen Konzeptionen und Entwürfe sich in einem mehr oder wenig einig waren: Deutschland strebte die direkte oder indirekte Annexion an. In den ersten Jahren des Krieges herrschte in den zivilen Teilen der Reichsleitung noch die Meinung vor, man solle keine voreiligen Schritte unternehmen, um nicht die Möglichkeit eines Separatfriedens mit dem russischen Kaiserreich zu verspielen. Spätestens ab 1916 zeichnete sich jedoch klar ab, daß eine derartige Rücksichtnahme nicht mehr zu den Optionen der deutschen Politik gehörte. Rußlands ‚Zurückdrängen auf seine natürlichen Grenzen‘, wie es im internen Sprachgebrauch hieß, war angeblich aus strategischen Gründen eine conditio sine qua non der pax Germanica im Osten. Damit waren aber die eigentlichen Probleme nicht gelöst. Was sollte mit den baltischen Völkern und vor allem mit Polen geschehen? Gab man den Weg zum Wiederentstehen eines polnischen Staates frei, stellte sich quasi automatisch die Frage der Westgrenze dieses Staates, und damit verbunden die der polnischen Minderheit in Preußen. Selbstverständlich kam ein Abtreten deutschen Gebietes nicht infrage, und somit befand sich die deutsche Politik in einem circulus vitiosus. Hinzu kam, daß ab 1917 direkte Annexionen aufgrund des immer mehr um sich greifenden Schlüsselbegriffs vom ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker‘ außenpolitisch katastrophal gewirkt hätten. Die deutschen Aspirationen wurden daher verschleiert und mit einem angeblichen Volkswillen begründet. Berlin versuchte, trotz beständiger innerer Streitigkeiten, die sich vor allem zwischen militärischer Führung und ziviler Reichsleitung auftaten, auf die polnische Karte zu setzen. Die Proklamation eines polnischen Königreiches vom November 1916 hatte allerdings nicht die erhoffte Wirkung auf die Polen. Dies ist verständlich, wenn man sieht, daß die eigentliche Absicht war, polnische Soldaten für Deutschland kämpfen zu lassen, und über die Grenzen des Königreiches erst nach dem siegreichen Ende des Krieges verhandelt werden sollte. Litauen firmierte offensichtlich als Verhandlungs- und Kompensationsmasse für diesen zukünftigen Staat; jedenfalls wurden alle Pläne eines selbständigen Litauen bis Ende 1916 als illusionär bezeichnet. Erst als der Mißerfolg der deutschen Politik in Polen sich klar abzeichnete, wuchs das Interesse.

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