Ins Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit kehrten die baltischen Staaten, und hierbei insbesondere Litauen, erst am Ende der 80er Jahre zurück, als im Zeichen der Perestroika das Streben nach Unabhängigkeit, das nie erloschen war, neuen Auftrieb erhielt. Werfen wir abschließend einen Blick auf die Politik, die die Bundesrepublik dabei verfolgte. Nirgends sonst in der Welt wurde Michail Gorbatschow eine so große Sympathie entgegengebracht wie in Westdeutschland. Unvergeßen sind die Bilder vom Bonner Marktplatz im Frühjahr 1989, die eigentlich nur mit John F. Kennedys triumphalen Berlinbesuch zu vergleichen sind. Die Meinung von Bevölkerung und Regierung war selten einmütig und deckungsgleich: Gorbatschow verkörperte die Hoffnung auf ein Ende der ideologischen Konfrontation, er konnte die Bedrohung durch Raketen beenden, den Beginn wirklicher Abrüstung einleiten. Zugleich wußte man um die inneren Gegner und Widerstände einer solchen Politik. Mußte da nicht das Streben Litauens, verkörpert in der einseitigen Unabhängigkeitserklärung vom 11. März 1990, eine Gefährdung der gesamten Perestroika und Wasser auf die Mühlen der reaktionären Gegenspieler Gorbatschows bedeuten? So betrachtete man Litauen zweifellos mit großer Sympathie, fürchtete aber zugleich, daß in Vilnius eine Entwicklung eingeleitet werden könnte, die für alle Beteiligten nur negative Folgen haben werde. Die Bundesregierung betonte zwar, sie habe – angefangen mit Konrad Adenauer – die Annexion der baltischen Staaten nie anerkannt, zugleich rieten aber Bundeskanzler Kohl und der französische Staatspräsident Mitterand Vytautas Landsbergis in einem gemeinsamen Brief, die Unabhängigkeitserklärung zu suspendieren. Helmut Kohl empfahl Vilnius kurz darauf, einen konstruktiven Dialog mit Moskau zu beginnen; eine Lösung könne nur durch zweiseitige Verhandlungen, nicht aber durch einseitige Erklärungen erreicht werden. Hans-Dietrich Genscher mahnte Litauen zur Zurückhaltung, um nicht eine schwierige Situation für die Großmächte zu schaffen. Diese Äußerungen aus dem Frühjahr 1990, als Moskau über Litauen eine Wirtschaftsblockade verhängt hatte, zeigen deutlich den deutschen Kurs. Die Priorität lag eindeutig auf der Schiene Bonn-Moskau, wobei hinzuzufügen ist, daß damals wohl nur wenige Zeitgenossen den bald darauf folgenden vollständigen Zerfall der Sowjetunion vorausgesehen haben.

Andererseits konnten die baltischen Staaten aus dieser abwartenden Haltung des Westens keine Hoffnung für die eigenen Ziele schöpfen. In Litauen steuerte die Situation im Herbst/-Winter 1990 immer deutlicher auf eine Eskalation zu. Von der litauischen KP hatte sich schon früher eine moskautreue, prorussische Fraktion abgespalten, die nun, gestützt und ermuntert durch die im Lande stationierten Einheiten der Roten Armee, ungefähr 40 000 Mann, versuchte, einen Vorwand für ein militärisches Eingreifen zu liefern, indem sie auf eine gewaltsame Lösung der Konflikte hinarbeitete. Im Januar 1991 hatte sich die Lage zugespitzt: Sowjetische Panzer rasselten durch Vilnius; Menschenmengen deckten mit ihren Körpern die strategisch wichtigen Punkte, unter anderem das Parlament, die Radio- und Fernsehstationen. In der Nacht zum 13. Januar stürmten Fallschirmjägereinheiten und Truppen eines Antiterrorkommandos ‚Alpha‘, die für diesen Zweck aus Riga eingeflogen worden waren, den Fernsehturm von Vilnius. Dabei töteten sie 14 litauische Demonstranten, die waffenlos in dem Kreis aus Menschen standen, um die Freiheit ihres Landes zu verteidigen. Die 24-jährige Loreta Asanavičiūtė, um nur das erschütternste Beispiel zu nennen, wurde von einem Panzer überrollt.

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