Im Mittelalter zählte das Großfürstentum Litauen zu den wichtigsten Feudalstaaten Osteuropas. In seiner größten Ausdehnung erstreckte es sich über Kiew hinaus bis ans Schwarze Meer, im Osten bis nach Smolensk und Brjansk. Für das heutige Litauen wurden zwei der damaligen Geschehnisse zu Schlüsselpunkten der Entwicklung. Zum einen gelang es in jahrzehntelangen Kämpfen, die Eroberung durch den Deutschen Orden zu verhindern; damit waren der deutsche und der livländische Zweig des Ordens nie in der Lage, eine Landverbindung zueinander herzustellen. Hieraus erklärt sich auch, weswegen es in Litauen nie eine der deutsch-baltischen in Lettland und Estland vergleichbare deutsche Minorität gegeben hat. Zum anderen wurde das polnische Element infolge von dynastischen Verbindungen immer stärker und bestimmender, bis das Großfürstentum in der Union von Lublin im Jahre 1569 praktisch im polnischen Königreich aufging. Damit war das zukünftige Schicksal Litauens mit dem Polens verbunden; die polnischen Teilungen betrafen folglich auch immer den litauischen Teil des polnischen Reiches. Die Christianisierung des letzten heidnischen Landes Europas geschah von Krakau aus, so daß die römisch-katholische Kirche bis heute die weitaus meiste Zahl der Litauer zu ihren Gläubigen zählt. Die litauische Sprache, die im übrigen nicht zur slawischen Sprachenfamilie gehört, sondern zusammen mit dem Lettischen dem baltischen Sprachzweig des Indogermanischen zuzurechnen ist, wurde in die bäuerliche Bevölkerung abgedrängt: Die Sprache von Adel und Verwaltung war polnisch.

Die Teilungen Polens brachten Litauen unter die Herrschaft des Zarenreiches. Noch während der polnischen Aufstände 1830/31 und 1863 sah es so aus, als ob die Polonisierung Litauens vollständig gelungen sei und es keine litauische Nation mehr gebe. Weil die Aufstände speziell im litauischen Gebiet besonders heftig gewesen waren, reagierte die zaristische Bürokratie mit harten Gegenmaßnahmen. Es wurde verboten, litauische Bücher in lateinischer Schrift zu drucken, die Region durfte offiziell nicht mehr als Litauen bezeichnet werden, stattdessen sprach man vom Nordwestgebiet.
Nach 1863, dem Höhepunkt der Polonophilie, vollzog sich ein erstaunlicher Vorgang: Das litauische Volk entwickelte ein eigenständiges und genuines Nationalgefühl, ohne das die Unabhängigkeit des Landes im 20. Jahrhundert nicht denkbar gewesen wäre. Der Ausgangspunkt dieser Bewegung lag außerhalb der Grenzen des Zarenreiches, und zwar in Ostpreußen. Bereits im 15. Jahrhundert hatte die Grenzziehung zwischen dem Deutschen Orden und dem Großfürstentum Litauen einen Teil der litauischsprachigen Bevölkerung vom ethnischen Kerngebiet abgetrennt. Diese Grenze hatte bis zum Jahre 1918, nun zwischen dem Zarenreich und dem Deutschen Kaiserreich, Gültigkeit. Die Entwicklung derjenigen Litauer, die in Ostpreußen wohnten, und daher Preußisch-Litauer oder Kleinlitauer genannt wurden, unterschied sich von der der im Russischen Reich lebenden Großlitauer. Wie der Großteil der deutschen Bevölkerung gehörten die Kleinlitauer dem protestantischen Glauben an. Im 19. Jahrhundert zeichnete sich ein klarer Assimilierungstrend der preußischen Litauer an die deutsche Staatsnation ab. Diese Assimilierung war nicht nur freiwillig, sondern auch Ergebnis der scharfen Germanisierungspolitik Preußens gegen den polnischsprachigen Bevölkerungsanteil in der Provinz Posen und in Westpreußen, von der auch die Litauer – etwa im Abbau der litauisch-sprachigen Schulen in Ostpreußen – betroffen wurden.

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