Der Wortstamm des litauischen höchsten Gottes Dievas findet sich auch in vielen anderen Sprachen als Name einer Gottheit (Deywis, Deiws, lateinisch Deus). Alle diese Namen leiten sich vom indoeuropäischen Wort deiuos ab, das aus deva = Gott und dyaus = Himmel gebildet worden war und den göttlichen Himmel, die höhere Instanz bedeutete. Diese Ähnlichkeit findet man zum Beispiel auch im Lateinischen (deus = Gott, dies = Tag). Gleichzeitig besteht eine Wortverwandtschaft des baltischen Dievas, Dievs, Deivs zum griechischen Zeus, zum luvischen Tiwat, dem germanischen Tivaz, zum finnischen taivas und estonischen taevas für „Himmel“.

Auch bei den Eigenschaften des baltischen Dievas gibt es Gemeinsamkeiten mit anderen indogermanischen Religionen: Er wohnt im Himmel, ist verbunden mit den leuchtenden Himmelskörpern und bestimmt das Geschick des Menschen. Allerdings hat der litauische Dievas in den Entstehungsmythen auch eine sehr konkrete und bodenständige Form: Er tritt als sehr alter Mann auf, der graue Haare hat und gebeugt geht. Dieses Bild erscheint in sich schlüssig, ist der Schöpfergott doch der älteste Gott von allen und das älteste Lebewesen auf der Erde. Eine Besonderheit des litauischen Gottes besteht darin, dass er etwas ungeschickt ist. So stößt er sich den Zeh an einem Stein oder wird von einem Hund abgehängt, den er einfangen will. Oft erscheint er als komisch oder gar lächerlich, doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen, denn hilflos oder gar machtlos ist er nicht.

Wie im Kapitel „Erzählte Folklore“ bereits beschrieben, nimmt der Schöpfergott in den Mythen oft Menschengestalt an und verrichtet alltägliche Dinge, die ihn mit dem ländlichen Leben verbinden oder aus denen sich heutige Umstände erklären: der Stein, an dem er sich stößt, wird nicht größer, wo er hintritt, entsteht etwas etc.

So klopft er zum Beispiel auch als Landstreicher an die Türen der Häuser. Wer ihn einlässt und bewirtet, wird reich belohnt, wer ihn abweist, in ein Schwein, einen Bären, einen Wolf, einen Hund oder ein anderes Tier verwandelt. So stellt er die Einhaltung ethischer Grundsätze sicher, wobei seine Bestrafungen außergewöhnlich hart ausfallen. Darin ähnelt er dem indischen Gott Varuna aus der Rigveda-Periode, während die Eigenart, dem Menschen verkleidet oder in anderer Form zu erscheinen, auch bei dem indischen Gott Avatar oder dem griechischen Zeus vorkommen. Diese Verschmelzung von Eigenschaften fremder Götter zu einem neuen Götterbild ist für viele indo-europäische Religionen typisch.

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