Volkskundler, die sich mit der litauischen Folklore befassen, stimmen darin überein, dass Kinderlieder als eigenständige Gruppe anzusehen sind – dennoch ist es gar nicht so einfach, zwischen dem Liedgut Erwachsener und dem der Kinder eine klare Abgrenzung zu schaffen. Das liegt daran, dass in einem Großteil der Kinderlieder, die bis heute überliefert wurden, Elemente aus dem Erwachsenenliedgut enthalten sind – zum Beispiel Motive, die alte Kulte oder Religionen widerspiegeln, oder bestimmte Kompositionsformen, die untrennbar mit alten Ritualen verbunden sind. Dazu kommt, dass Kinderlieder in der litauischen Kultur immer einen besonderen Platz einnahmen und von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen gesungen wurden.

Im Vergleich mit dem Rest des Liedguts scheint es keine besonders große Anzahl von Kinderliedern zu geben, was jedoch möglicherweise daran liegt, dass Sammler und Aufzeichner sie als zweitklassig ansahen. Deshalb enthielten klassische Liedersammlungen wie die von L. I. Rhesa, G. H. F. Nesselmann, Ch. Bartsch, O. Kolberg und anderen nur wenige Beispiele. In den Werken von A. R. Niemi und A. Sabaliauskas kommen sie zahlreicher vor. A. Juška stellte in Lietuviškos dainos („Litauische Lieder“) 23 Kinderlieder vor; A. R. Niemi und A. Sabaliauskas in Lietuviškos dainos ir giesmės šiaurės rytų Lietuvoje („Litauische Lieder und Gesänge in Nordost-Litauen“) die Texte von 92 Kinderliedern und A. Sabaliauskas in Lietuvių dainų ir giesmių gaidos („Noten Litauischer Lieder und Gesänge“) 23 Liedtexte und 11 Melodien für Kinder.

In der Nachkriegszeit erschienen einige Sammlungen beliebter Kinderlieder mit und ohne Noten. Das herausragendste Werk war Lietuvių liaudies dainos vaikams („Litauische Volkslieder für Kinder“) von J. Čiurlionytė, das 1948 erschien und in dem Texte und Melodien von Kinderliedern nach verschiedenen Thematiken zusammengestellt waren.

Die größte und umfassendste Sammlung von litauischen Kinderliedern ist Lietuvių liaudies dainynas. I t. Vaikų dainos („Das Litauische Volksliedbuch, Band 1, Kinderlieder“), die vom Institut für Litauische Sprache und Literatur der Litauischen Wissenschaftsakademie 1980 herausgegeben wurde. Der Band enthält über 1000 Texte und 340 Melodien sowie einen ausführlichen Einleitungstext über Kinderliedtexte von Pranė Jokimaitienė. Der Autor schlägt folgende Kriterien für die Klassifizierung von Kinderliedern vor: Funktion, Thema, Struktur, Ursprung, Komponist und Aufführender. Nach diesen Kriterien sind Kinderlieder sehr vielfältig. Ein Teil wurde ursprünglich für Erwachsene komponiert, aber später zu den Kinderliedern gezählt (darunter Kalenderlieder, Unterhaltungslieder und Arbeitslieder), ein Teil war von Anfang an für Kinder gedacht, und einige entwickelten die Kinder selbst.

Bei der Funktion unterscheidet P. Jokimaitienė Wiegenlieder, Unterhaltungslieder, Tierbeschreibungen, Rezepte und Spottlieder. Die ersten beiden Gruppen wurden von Erwachsenen erdacht und für Kleinkinder gesungen. Tierbeschreibungen und Rezepte waren für ältere Kinder gedacht und wurden von Kindern und Erwachsenen aufgeführt. Spottlieder – meist kurze, sehr spezielle Kompositionen – wurden meist von den Kindern selbst erdacht.

Suche