Die Anpassung


Geschichte von Litauen – Start

Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Der bewaffnete Kampf der Nachkriegszeit für die Befreiung vom Joch der Sowjetunion war verloren, aber dies war keine endgültige Kapitulation. Litauen hat sich nicht mit dem brutal aufgezwungenen sowjetischen System, mit der rechtlosen Lage innerhalb der Sowjetunion abgefunden, sondern passte sich dem System nur an. Die Erkenntnis, dass die Unabhängigkeit oder eine Art Autonomie ohne Veränderung der politischen Bedingungen in der Sowjetunion nicht möglich ist, spornte die Menschen an, unter diesen Bedingungen alle möglichen Formen des Nationalidentität unaufhörlich zu schützen und aufrecht zu erhalten.
Das Anpassungsspektrum war breit; von der versteckten antikommunistischen Haltung bis hin zur Schein- oder sogar aktiven Kollaboration mit dem Regime. Die meisten Menschen führten ein Doppelleben: gewöhnlich existierte neben der offiziellen Haltung manchmal sogar ein generell gegensätzliches Verhaltensmodell, das nur in der vertrauten Umgebung zur Geltung kam. Das konnte in der Atmosphäre der totalen Verfolgung auch gar nicht anders sein, wenn man für ein unvorsichtig und „an falscher Stelle“ gesungenes Lied des Widerstands oder der Deportierten, für einen schärferen Witz, als Student von der Hochschule verwiesen werden, als Beamter seine Karriere zerstören konnte. Nur ein Beispiel für die totale Kontrolle: nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit wurden in der ehemaligen Zentrale des KGB Säcke mit Belegen über die Abonnements von Zeitungen und Zeitschriften aus der sowjetischen Zeit gefunden. Es scheint, dass die Kontrolle darüber, wer die offizielle kommunistische Presse liest, hier gar keinen Sinn ergibt. Doch auch dafür interessierte sich der KGB.
Auch unter diesen Bedingungen gab es Menschen, die sich dem System nicht anpassten und sich für dessen Bekämpfung entschieden. Die einen wurden zu öffentlichen Dissidenten, die anderen verbündeten sich in geheimen Organisationen und gaben illegale Druckerzeugnisse heraus. Aber solche Menschen gab es wenig. Das Risiko, die Aufopferung und die Tapferkeit ist nicht die Sache vieler Menschen.
Das Spektrum der Nichtanpassung war breit: es reichte von der Kritik am kommunistischen System bis zu den Bestrebungen dieses zu reformieren oder total abzulehnen, von der Verteidigung der Menschenrechte und der Rechte der Katholischen Kirche bis hin zum Aufruf zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit.

Wirtschaft und kulturelles Leben


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Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Während des halben Jahrhunderts der Zugehörigkeit zur Sowjetunion erfuhr Litauen Kollektivierung, Industrialisierung und Urbanisierung, es entstand die moderne Stadt- und Industriegesellschaft, die viel moderner war als die der Zwischenkriegsperiode in der Zeit der Unabhängigkeit. Natürlich wurde der größte Teil dieser geschaffenen Industrie nicht für die Eigenversorgung Litauens benötigt. Sie wurde künstlich geschaffen und war nach den Maßstäben der Weltwirtschaft weder konkurrenzfähig noch effizient und hatte zudem koloniale Züge, schuf jedoch die städtische Lebensweise in Litauen.
Im streng zentralisierten und vereinheitlichten Staat musste die örtliche Verwaltung die aus Moskau kommenden Direktiven zur wirtschaftlichen Entwicklung blind befolgen und konnte die Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse wenig beeinflussen. Doch im Gegensatz zu Lettland und Estland wurde die Entwicklung der Industrie dezentralisiert betrieben und nicht nur auf wenige Städte konzentriert. Auf diese Weise wurden die örtlichen Arbeitsressourcen besser genutzt und der Strom der Emigranten aus Russland verlangsamt. Dies ist eine der Hauptursachen, warum Litauen litauisch blieb. Nach der Bevölkerungszählung 1989 waren 79,9% der Bevölkerung Litauer. Sie machten in allen Städten die Mehrheit der Bevölkerung aus, außer in Visaginas, das für die Beschäftigten eines Kernkraftwerkes gebaut wurde.
Der II. Weltkrieg und die Nachkriegszeit bewirkten erhebliche demographische Veränderungen: nach dem Krieg gab es fast keine Juden mehr in Litauen, 1944 wurde das Memelland von fast allen Deutschen verlassen, 1944–1947 und 1956–1959 wurde das Gebiet Vilnius von fast 200 000 Polen verlassen. Die Litauer erlitten ebenfalls große Verluste: Tausende sind im Krieg gefallen, 1944 emigrierten 60000 in den Westen, ca. 50000 fielen im Widerstandskrieg, ca. 200 000 wurden deportiert. Doch durch die hohen Geburtenzahlen und durch die Rückkehr vieler Deportierten und Gefangenen wurde bereits 1959 wieder das Vorkriegsniveau der Bevölkerung erreicht. Trotz der klaren Russifizierungstendenzen nahm die Sowjetmacht den Litauern nicht ihre Muttersprache. Natürlich war Russisch in der Schule Pflicht, doch es war möglich, das Abitur und das Hochschulstudium in der eigenen Muttersprache zu absolvieren und die eigenen kulturellen Bedürfnisse in eigener Muttersprache zu befriedigen. Jedoch durften die Ausbildung und das kulturelle Leben den eng vorgegebenen Rahmen nicht verlassen.
Schon in den ersten Tagen der sowjetischen Okkupation begann eine ideologisierte Kulturrevolution, die sich in der Vereinheitlichung des Bildungssystems, in der Monopolisierung der Ausbildung der Staatsbeamten, in der bolschewistischen Umerziehung der Intelligenz und in anderen Kontrollhandlungen und Einschränkungen der eigenständigen Kulturentwicklung ausdrückte. Der Analphabetismus wurde beseitigt, die unentgeltliche Bildung wurde eingeführt, die achtjährige Grundschule wurde zur Pflicht – das waren zweifellos Erfolge. In der gesamten Zeit war die Bildung aber mehr ein Mittel zur Indoktrinierung des Volkes als ein Mittel zur Wissensverbreitung.
Im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg wurde das traditionelle Kulturleben Litauens zerstört und später nach dem durch Moskau bestimmten Apriori-System des „Erschaffens der sozialistischen Kultur“ geformt, streng nach dem Kanon der kommunistischer Ideologie.
Unter der übertriebenen Anwendung der „sozialistisch- realistischen“ Methode litten sogar die Kulturschaffenden, die das Regime überzeugt unterstützten. Als nach dem Tod von Stalin das politische Tauwetter begann, wurden die Grenzen des „sozialistischen Realismus“ ein wenig erweitert. Im künstlerischen Schaffen verbreitete sich die Suche nach neuen künstlerischen Formen, versteckt unter kommunistischer oder nahestehender Thematik. Wie sonderbar es einem auch erscheint, erschienen moderne W.I. Lenin darstellende Kunstwerke, Bilder, Plastiken, Theaterstücke. Bei näherer Betrachtung konnte man nicht eine linientreue Darstellung des Revolutionsführers sehen, sondern eher die Desakralisierung dieser Figur.
Als die Wachsamkeit der Ideologiewächter nachliess, kamen viele neue Stile und Genres zu der vorher totalitär kontrollierten Literatur hinzu. Auf diese Weise entstand ein apolitisches Schaffensfeld, das von den Parteiideologen und Propagandisten als verdächtig eingestuft und doch toleriert wurde. Die Schaffensinhalte blieben mehr oder weniger sowjetisch (doch viel geringer als während der Zeit des Stalinismus), es gab jedoch subtile Elemente und Anspielungen, die bei einem großen Bevölkerungsteil mit Opposition assoziiert wurden.
Das moderne, die damalige Zeit widerspiegelnde Schaffen bildete schon selbst eine Opposition gegenüber dem normativen kanonartigen „sozialistischen Realismus“ und den Prinzipien des kommunistischen Regimes. Doch nur wenige künstlerische Werke in Litauen gerieten auf den „Index“ und durften nicht veröffentlicht werden. Die Kulturschaffenden versuchten, die erlaubten Grenzen nicht zu weit zu überschreiten, die durch eine komplizierte Abstimmung der Partei- und repressiven Institutionen mit den Leitern der künstlerischen Organisationen und Kollektive ausgehandelt wurden. Das Schaffen „für die Schublade“ war nicht verbreitet.

Der Untergang der litauischen Republik


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Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
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Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Auf der Suche nach stabileren Sicherheitsgarantien probierte Litauen verschiedene weitere Varianten: man versuchte, ein militärpolitisches Bündnis der baltischen Staaten zu gründen, man suchte den Schutz der großen Staaten, letztendlich verfolgte man eine Neutralitätspolitik. All diese Versuche scheiterten. Doch wie kritisch wir die Politik Litauens und auch anderer mittel- und osteuropäischer Länder bewerten – die größte Schuld trifft das internationale Sicherheitssystem oder besser gesagt, das Nichtvorhandensein dessen.
Die Probleme Litauens begannen im März 1938, als Polen unter der Androhung militärischer Sanktionen Litauen zwang, diplomatische Beziehungen mit Polen aufzunehmen. Im März 1939 geschah ein noch größeres Drama, als Hitler das Memelgebiet annektierte. Letztendlich wurde Litauen im Oktober 1939 durch die Sowjetunion in Übereinstimmung mit dem deutsch-sowjetischen Ribbentrop-Molotow-Pakt gezwungen, einen Vertrag zur gegenseitigen Unterstützung zu unterschreiben und den Einmarsch der Roten Armee zu dulden. Litauen erhielt Vilnius zurück, doch dies versüßte nur die bittere Pille, die Litauen schlucken musste. Obwohl die Sowjetunion formal die staatliche Souveränität der baltischen Länder und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten garantierte, war dies Heuchelei – die sowjetischen Truppen spielten die Rolle des trojanischen Pferdes. Stalin hatte einfach die Strategie der langsamen Unterwanderung gewählt.
Im Frühling 1940, nachdem Deutschland den großen Angriff im Westen begann, zogen dunkle Gewitterwolken auch über die baltischen Staaten, vor allem über Litauen. Am 14. Juli (am selben Tag, als die deutschen Truppen Paris besetzten) erhielt die litauische Regierung das Ultimatum zur Bildung einer für den Kreml annehmbaren Regierung und zur Duldung weiterer Truppen der Roten Armee.
Ganz in die Ecke gedrängt und ohne geringste internationale Unterstützung gab die litauische Regierung nach. Man erklärte sich bereit, die Okkupation als Erweiterung der Stützpunkte der Roten Armee zu akzeptieren. Präsident A. Smetona floh nach Deutschland. Unter diesen Umständen erhielt Moskau die Möglichkeit, ein zunächst noch rechtmäßiges Auswechseln des politischen Regimes und später auch den freiwilligen Beitritt Litauens zur Sowjetunion zu inszenieren.
Der Beitritt Litauens zur Sowjetunion wurde formal nach litauischem Recht bei meisterhafter Manipulation des Volkswillens durchgeführt und die dahinter verborgene brutale Gewalt unter eindrucksvollen Freiheitslosungen versteckt. Die Bevölkerung Litauens spielte in diesem politischen Theater keine Rolle, obwohl alles in seinem Namen geschah. Das Volk war nur ein Beobachter, der keine Bewegung wagte, paralysiert durch seine bekannten und unbekannten Denunzianten.
Nach dem Beitritt begann der Sowjetisierungsprozess. Nach sowjetischem Modell wurden alle Bereiche neu gestaltet: Staatsverwaltung, Wirtschaft, Bildung, Kultur. Alles wurde zerstört und vernichtet, was an die Zeiten der Unabhängigkeit erinnerte. Besonders drückend wirkte eine schnelle und umfassende Verschlechterung des Lebensniveaus, das direkte Aufzwingen der kommunistischen Ideologie und eines strengen Atheismus und besonders die Atmosphäre ständiger Angst.
Doch niemand konnte mit den entsetzlichen Massendeportationen in den Norden der Sowjetunion rechnen, die in Litauen am 14. Juni 1941 begannen. Insgesamt wurden ca. 17.500 Menschen deportiert. Mehr schaffte man nicht, denn am 22. Juni begann Deutschland den Angriff auf die Sowjetunion.

Teil II. Die Geschichte der Zivilgesellschaft


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Litauen im 13.–18. Jahrhundert
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Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
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Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
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Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Übrigens, gab es diese Untergrundschulen nicht nur bei Litauern, sondern auch bei Polen, Weißrussen und Juden. Diese Schulen waren verboten und verfolgt, so dass sie nur im Geheimen agierten. Doch gerade dank dieser Schulen war Litauen Ende des 19. Jh. eine der gebildetsten Regionen Russlands, und die Litauer – eines der gebildetsten Völker des russischen Reiches.
Man irrt nicht, wenn man behauptete, dass die litauische Kulturgeschichte des 19. Jh. vor allem die Geschichte von Zweisprachigkeit ist. Viele bekannte litauische Persönlichkeiten dieser Zeit schrieben auf polnisch oder sowohl auf polnisch als auch auf litauisch. In der Anfangsperiode der nationalen Wiedergeburt wurde die litauische Literatur also auch in polnischer Sprache verfasst. Dass beste Beispiel für dieses Phänomen ist das Schaffen von Adam Mickievicz.
Eigentlich wurde bereits seit Ende 18. Jh. viel Literatur in litauischer Sprache herausgegeben. Die Hauptzielgruppe der litauischen Herausgeber war der wenig gebildete Bauer; deshalb wurden viele Gebetbücher, Fibeln, Kalender gedruckt. Eine neue Tendenz wurde dabei deutlich – das Verständnis, dass die litauische Sprache nicht nur die Sprache des Volkes, sondern die Sprache der Nation ist.
Als sich nach dem Aufstand von 1863 die Situation im Lande grundlegend änderte, als die Regierungsmacht den Druck in litauischer in polnischer Sprache (in lateinischer Schrift) in Litauen gänzlich verbot, als man versuchte der litauischen Sprache das russische Alphabet aufzuzwingen, wurden in Ostpreußen (Tilsit) litauische Bücher in lateinischer Schrift herausgegeben und illegal nach Litauen gebracht. Der illegale litauische Druck förderte jedoch auch die Verbreitung der litauischen Belletristik. In dieser Periode wurden die Grundlagen der litauischen Rechtschreibung gelegt.
Nach Wiedereinführung der lateinischen Schrift und nach der Verleihung der Bürgerrechte an Litauer änderten sich die Bedingungen des kulturellen Lebens in Litauen radikal. Die Möglichkeit zur Ausbildung der Kinder in ihrer Muttersprache, die Ausbildung eigener Lehrer, ein vielfältiges Theater- und Musikschaffen bedeutete einen großen Sprung im geistigen Ausdruck der litauischer Nation. Die Pflege des kulturellen Lebens auf den unterschiedlichsten Gebieten zeigte, dass in der Gesellschaft von Litauen grundlegende Veränderungen stattfanden. Litauen erlangte so seine Unabhängigkeit kulturell viel schneller als politisch. Wenn man über die Zivilisationsprozesse des 19. Jh. spricht, muss man noch ein weiteres wichtiges Moment erwähnen: im Land spielten die mehr oder weniger in die Gesellschaft integrierten Völker – Tataren, Karäer, Juden – eine große Rolle. Besonders die Letzteren waren nicht nur die zahlreichste, sondern die wirtschaftlich einflussreichste konfessionell- ethnische Gemeinschaft. Schon Ende des 18. Jh. lebten auf dem Territorium des Großfürstentums Litauen über 50.000 Juden, die sogenannten Litvaken. Nachdem die polnischen und die litauischen Gebiete an Russland angegliedert wurden, entstand hier die weltweit größte jüdische Konzentration. In den vierziger Jahren des 19. Jh. lebten im Westen des russischen Imperiums schon ungefähr 2 Mio. Juden. Natürlich musste die neue Macht darauf Rücksicht nehmen. Kurz gesagt, stieß Russland auf ein neues Problem, die sogenannte Judenfrage, die Integration dieses Teils der Gesellschaft in das Leben des Landes. Trotz der großen politischen Veränderungen lebte die jüdische Gemeinde immer noch sehr isoliert und machte den Eindruck eines „Volkes im Volk“. Leider erfolgte keine Integration, sondern eine Politik der Einschränkungen gegenüber den Juden. Die allgemeine Politik der Regierungsmacht Russlands bestand darin, die Juden von den Dörfern in die Städte und Städtchen zu vertreiben, indem man ihnen verbot, Höfe zu pachten, Gasthäuser („Kaschemmen“) zu unterhalten und Herbergen zu führen. Dort bildeten die Juden eine eigene Schicht mit eigener Verwaltung. Natürlich wuchsen mit dem Wechsel der Machthaber auch die Einschränkungen der Selbstverwaltung, bis sie in den vierziger Jahren schließlich ganz abgeschafft wurde.
Einen großen Schaden fügte das militärische „Besserungssystem“ der Juden, das von Nikolaj I. eingeführt wurde, der jüdischen Gemeinde in Litauen zu, die Juden wurden rekrutiert und in Kasernen „erzogen“. Trotz dieser Einschränkungen wird gerade das 19. Jh. als Renaissance der Juden Litauens gesehen. Gerade in diesem Jahrhundert erneuerte sich der jüdische Religionsgedanke und entwickelte sich ihre Weltanschauung und eine vielseitige intellektuelle Tätigkeit. Neben den damals wichtigsten jüdischen Kulturzentren in Warschau und Odessa zeichnete sich das Zentrum in Vilnius durch seinen besonderen Charakter aus. Hier gab es ein Modehaus, religiöse und weltliche Schulen in hebräischer und jiddischer Sprache, es wurden Tageszeitungen, Zeitschriften, Lehrbücher, religiöse Schriften und Belletristik herausgegeben (1799–1915 gab es in Litauen 258 Druckereien, von denen 190 in jüdischer Hand waren). Seit Anfang des 19. Jh. wurden Juden zum Studium an der Universität Vilnius zugelassen. In Vilnius gab es das einzige Lehrerinstitut für Juden in Russland.
Einen großen Einfluss auf die jüdische Kultur und besonders auf die Literatur hatten die Bewegung des religiösen Chassidismus, die in den von Polen regierten Gebieten Podolsk und Volyn (Wolin) entstand und die aus Deutschland kommende Aufklärungsbewegung der Haskala. In dieser Periode tauchten einige berühmte Persönlichkeiten auf, die die Grundlagen für den neuen geistigen und moralischen Aufschwung der jüdischen Nation vorbereiteten. Eine besondere Rolle übernahm in diesem Aufschwung der größte Gaon dieser Zeit – Elijahu Ben Shalom aus Vilnius. Im 19 Jh. wurden in Litauen weltbekannte jüdische Intellektuelle ausgebildet, es wurde Literatur in Jiddisch geschrieben, der wichtigsten Umgangssprache der Juden.
Obschon die litauischen Juden ein untrennbarer Teil des osteuropäischen Judentums waren, unterschieden sie sich von den anderen durch ihre strenge jüdische Lebensart und ihren litauisch-deutschen Dialekt des Jiddischen. Ihr Platz in der jüdischen Welt wurde sehr deutlich, und ihr geistiger Einfluss reichte weit über die Grenzen von Litauen hinaus. Dies galt weder für die dem Islam zugetanen Tataren noch für die dem Judaismus treuen Karäer. Doch auch das kulturelle Leben dieser Völker im 19. Jh. wurde durch die gleiche politische Situation in Litauen bestimmt, bildlich gesprochen, durch das Leben unter der Macht des Zaren.

Teil I. Die Geschichte der Zivilgesellschaft

Die Geschichte der Zivilgesellschaft


Geschichte von Litauen – Start

Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
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Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Tatsächlich war die litauische Geschichte des 19. Jh. nicht nur die Geschichte der Verschwörungen, Aufstände und Kriege. Wie paradox es auch erscheint, ist das 19. Jh. trotz des Zustands der Unfreiheit und schmerzhafter physischer und moralischer Erschütterungen eine der schönsten Perioden in der Geschichte Litauens.
Das Leben ging seinen Weg in Richtung Fortschritt. Natürlich erreichte die Wirtschaft von Litauen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nicht die gleiche Höhe. Eine Belebung konnte man erst am Ende des 19. Jahrhunderts feststellen. Auf der Grundlage der ersten Bevölkerungszählung des russischen Reiches lebten 1897 auf dem Territorium des heutigen Litauens ca. 2,5 Mio. Menschen. 87,3% von ihnen lebten auf dem Lande und nur 12,7% in der Stadt. Die Struktur der Schichten war folgende: Bauern – 73,4%, Stadtbewohner – 20%, Adel – 5,2%, die Zahl der Vertreter aus anderen Schichten war gering.
Während Litauen ein Agrarland blieb, verblieb es gemessen an materiellen Merkmalen an der Peripherie der großen europäischen Prozesse. Dagegen konnte man auf dem Gebiet Kultur des 19. Jh. nur schwer von Rückständigkeit sprechen. Trotz aller Bemühungen gelang es dem russischen Imperium nicht, kulturelle Abgrenzungen zu schaffen, die zur Isolierung des Landes von der restlichen Welt geführt hätten.
Man sollte die Tatsache hoch bewerten, wie rasch hier am Rande des russischen Imperiums die Ideen der westlichen Zivilisation Anklang fanden. In dieser Zeit bildeten sich nicht nur die professionelle litauische Literatur, Kunst, Musik und Architektur, sondern auch Fotografie, Bibliothekswissenschaft, Museumswissenschaft und Theater heraus. Dieses Jahrhundert zeichnete sich durch kontinuierliches intellektuelles Schaffen aus. Vilnius und seine Universität hatten ohne Zweifel die größte Bedeutung für das kulturelle Leben in Litauen. In den Händen der Universität lagen nicht nur die Angelegenheiten der Bildung und Wissenschaft. Auf Initiative ihrer Professoren entstanden in Litauen die ersten Kultur- und Bildungsvereine. An der Universität konzentrierte sich die Forschung und die Herausgabe wissenschaftlicher Bücher. Man konnte sich also vorstellen, was für ein Schlag für das kulturelle Leben Litauens die Schließung dieser Wissenschaftseinrichtung war. Vilnius verlor seine Rolle als Zentrum und Organisator dieser Bewegung.
Die anderen Städte Litauens waren sowohl wirtschaftlich als auch kulturell sehr schwach entwickelt. Hier dominierten Vertreter anderer Ethnien – Juden, Russen und Polen (Ende des 19. Jh. machten die Juden 63,5% der Stadtbewohner aus.). Dadurch war es nur natürlich, dass nach der Schließung der Universität Vilnius die kulturelle Tätigkeit in die Dörfer und Höfe zurückkehrte, die seit eh und je untrennbar mit der intellektuellen, kulturellen Tätigkeit verbunden waren.
Im 19. Jh. veränderte sich die Rolle der Kultur im gesellschaftlichen Leben sehr stark. Man begann, das kulturelle Schaffen als eine besonders wichtige und bedeutsame Tätigkeit anzusehen, die direkt verbunden war mit der Erhaltung der Nation und ihrer Identität. Nach dem ersten Schock, den die Republik der zwei Nationen nach dem Verlust der Unabhängigkeit erlitten hatte und man annahm, dass der Niedergang des litauischen Staates auch den Niedergang des litauischen Volkes bedeutete, stellte man fest, dass das Volk auch ohne Staat weiter existierte und seine Staatlichkeitstraditionen weiter pflegte.
Tatsächlich verstand man die Nation als Nation des Adels – darum begann man, den Adelshof als den einzigen Bewahrer kultureller Werte und der Unabhängigkeitsidee zu betrachten. Nicht wenige an ihren Höfen lebende und schaffende Adlige vertrieben sich nicht nur die Zeit, sondern fühlten sich auf einer wichtigen Mission zur Erhaltung der Nation und der Nationalität, indem sie mit ihrem literarischen Schaffen die Sprache pflegten, durch historische Forschungen das historische Gedächtnis erneuerten, durch religiöse und moralische Schriften die Erneuerung der Gesellschaft förderten und durch wissenschaftliche Publikationen die Bildung verbreiteten. Russland entdeckte recht bald die Bedeutung der kulturellen Tätigkeit an den Adelshöfen Litauens. Darum versuchte man nach Ersticken des Aufstandes von 1863, als alle Bemühungen der neuen Machthaber auf die Kultur- und Bildungssphäre gerichtet wurden, nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die kulturellen Positionen des Adels im Lande zu schwächen. Tatsächlich wurde die kulturelle Tätigkeit in den Höfen verborgener. Viele der Höfe und Gutshäuser wählten, eingeschränkt durch wirtschaftliche Sanktionen, diese einzig richtige Überlebensstrategie.
Die Herrscher richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die litauisch und weißrussisch sprechenden Bauern, in der Hoffnung, dass es durch Schulen gelingen würde, ihnen Russisch beizubringen und aus ihren Reihen eine Schicht von Intellektuellen heranzuziehen, die für die russische Kultur aktiv würden. Die Machthaber glaubten, dass man dieses Ziel innerhalb von ca. 20 Jahren erreichen kann.
Zweifellos sollte die Schule die führende Rolle im Russifizierungsprogramm Litauens einnehmen, vor allem die Grundschule. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft stieg der Bedarf an Bildung und elementarer Alphabetisierung, darum mussten die meisten Bauern nicht vom Nutzen des Schreibenlernens für ihre Kinder überzeugt werden. Andererseits wurde in der offiziellen Schule die traditionelle Nationalschrift nicht gelehrt; daher muss man diese Art von Schulen negativ einschätzen. Beim Boykott der staatlichen Grundschulen wurden die von den Bürgern selbst geführten und unterstützten geheimen Dorfschulen und die sogenannte „Schule der Mutter“, in der die Muttersprache gelehrt wurde, zur wichtigsten Einrichtung in der Bildungstätigkeit Litauens.

Teil II. Die Geschichte der Zivilgesellschaft

Teil II. – Der Verwaltungsapparat von Litauen


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Litauen im 19. Jahrhundert
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Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Mit der Thronbesteigung des neuen Zaren Alexander I. Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jh. begann erneut das politische Tauwetter. Dieser Herrscher schlug einen Reformweg ein. Die politischen Verbannten und politischen Emigranten wurden amnestiert. Die litauischen Adligen durften wieder die administrativen Posten im eigenen Land besetzen. Es wurde die Hoffnung gefördert, dass die Universität Vilnius wiedereröffnet wird. Mehr noch –1861 wurden die Bauern im russischen Imperium aus der Leibeigenschaft entlassen, bekamen das Recht zum Erwerb und der Verwaltung eigenen Bodens, durften eine Beschäftigung oder ein Geschäft wählen – wurden also zu Subjekten des allgemeinen Zivilrechts. Doch die Nationalitätenpolitik wurde von der neuen Regierung nicht verändert.

Deshalb entwickelte sich Anfang der sechziger Jahre in Polen und Litauen ein Aufstand, nach dessen Niederlage die Regierung ein spezielles Programm vorbereitete: “Wiederherstellung der russischen Anfänge“. Das Programm sah vor: 1) die polnische Sprache ganz aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen, 2) den Personen „polnischer Abstammung“- faktisch allen Menschen katholischen Glaubens, also auch den ethnischen Litauern, das Besetzen von staatlichen Positionen zu verbieten, 3) bei der Auswahl von Beamten orthodoxe Russen zu bevorzugen, 4) auf jede Art und Weise die katholische Kirche zu kontrollieren und einzuschränken, 5) die Bedingungen für die Verbreitung des orthodoxen Glaubens schaffen, 6) die Übersiedlung von Russen in das sogenannte Westland fördern, 7) das lateinische Alphabet durch das russische zu ersetzen und so den Druck litauischer Texte im lateinischen Alphabet ganz zu verbieten. Es wurde gedacht, dass durch einen derart gesteuerten kontinuierlichen Aufbau der Kultur- und Bildungseinrichtungen, durch die Verbreitung der russischen Schrift, durch die Unterstützung des orthodoxen Glaubens, durch das Vorhandensein einer großen Zahl von russischen Beamten und Lehrern, durch die Förderung der Ansiedlung russischen Adels und russischer Bauern, allmählich – in ca. zwanzig Jahren – die neue Generation dieses Landes es schafft, die russische Denkweise und Lebensweise anzunehmen. Nachdem das Programm verabschiedet wurde, begann im Land eine offene Russifizierung.

Noch 1864 wurde befohlen, die litauischen Schriften (Fibeln, offizielle Drucke, Lesebücher) in kyrillischer Schrift zu drucken. Es war verboten, Drucke in lateinischer Schrift aus dem Ausland einzuführen. Obwohl das Verbot der litauischen Schrift nicht formell per Gesetz verabschiedet wurde, wurde es vierzig Jahre lang befolgt. Und wieder wurden im Land die katholischen Kirchen massenhaft geschlossen, man fing an, orthodoxe Kirchen zu bauen. Die Güter der am Aufstand beteiligten Adligen wurden konfisziert, andere Höfe wurden mit großen Reparationszahlungen belegt. Der Kriegszustand im Lande wurde erst nach neun Jahren aufgehoben.
Nachdem Alexander III. den Thron bestiegen hatte, versuchte man auch weiter fleißig die Wiederherstellungspolitik der „russischen Anfänge“ zu verfolgen. Doch die erwachende und sich illegal ausbreitende litauische Nationalbewegung, an der auch breite Bauernschichten beteiligt waren, konnte durch keine Maßnahmen mehr gestoppt werden. Es wurde immer deutlicher, dass mindestens im ethnografischen Litauen die Politik der Wiederherstellung der „russischen Anfänge“ nicht die erwarteten Erfolge aufwies. Seit der Krönung Nikolai II. Mitte der neunziger Jahre des 19. Jh. konnte man bereits über die Machtkrise der Nationalpolitik sprechen. Darum wurde im Frühling 1904 das Verbot der litauischen Schrift aufgehoben. In manchen Schulen des Vilniusser Bildungsgebietes wurde erlaubt, Polnisch und Litauisch zu lehren. Sowohl Litauer als auch Polen bekamen den Status nationaler Minderheiten. Doch die Situation Litauens und der Litauer änderte sich nicht nur wegen der Zugeständnisse der Herrscher, die das Litauersein legalisierten, sondern auch durch starke Veränderungen im sozialen und politischen System des russischen Imperiums. Als Nikolai II. 1905 das entsprechende Manifest unterschrieb, schenkte er den Bürgern Russlands „feste Grundlagen für bürgerliche Freiheiten“. Diese Grundlagen sind: die Unantastbarkeit des Individuums, Freiheit des Gewissens und des Wortes, Versammlungs- und Bündnisfreiheit. Ein Jahr später fanden die ersten Wahlen in die Staatsduma statt – des von den Bürgern gewählten beratenden Gesetzgebungsorgans, ohne dessen Beschluss kein einziges Gesetz verabschiedet werden konnte. Jetzt hatte die Bevölkerung des russischen Imperiums, also auch die Bürger auf litauischem Boden, das Recht, ihre eigenen Vertreter in die Duma zu wählen und dadurch in einem bestimmten Ausmaß an der Verwaltung des Landes teilzuhaben, sie konnten zumindest offen ihre Meinung äußern.

Doch die Litauer wurden, wie auch andere ihre Interessen vertretende kleinere Völker des russischen Imperiums, immer noch als eine ethnische Minderheit gesehen. Sowohl die Machthaber als auch die Mehrheit russischer politischer Parteien und gesellschaftlicher Gruppierungen hielten das Imperium eher für homogen und nicht teilbar und vor allem für einen russischen Staat. Die nationalistischen Organisationen verfolgten immer noch die Wiederherstellungspolitik der “russischen Anfänge“. Doch mit Anfang des 20. Jh. eröffnete sich die Möglichkeit, verschiedene gesellschaftliche Organisationen, Kulturvereine, politische Parteien zu gründen und zu legalisieren. Den Privatpersonen wurde erlaubt, mit eigenen Mitteln litauische und polnische Grundschulen zu gründen.

Teil I.: Der Verwaltungsapparat Litauens

Der Verwaltungsapparat Litauens


Geschichte von Litauen – Start

Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Seit dem Ende des 18. Jh. wurde die russische Administration zum wichtigsten politischen Regierungsinstrument auf dem Territorium von Litauen. Unmittelbar nach Unterzeichnung des Vertrages zwischen Preußen und Österreich wurden die Institutionen des ehemaligen Staates Polen – Litauen aufgelöst. Der Königstitel, die hohen Beamten des Großfürsten (urėdai), die Adelstitel und die Bürgerschaft wurden abgeschafft. Vilnius wurde Residenz des Generalgubernators. Die Gubernien wurden in Kreise aufgeteilt. Der administrative Apparat Litauens und das Recht wurden langsam dem russischen Apparat und Recht angeglichen. Die Regierung versuchte in den besetzten Territorien eine Schicht des russischen Adels zu etablieren – die Staatsgüter wurden konfisziert, ein Teil der Güter, die sich im Besitz der katholischen und unierten Kirchen oder der Klöster befanden und die Adelshöfe, deren Besitzer den Eid auf die neue Herrschaft verweigerten, wurden den russischen Adligen zugeteilt. Weiterhin gab es Änderungen in der Verwaltung der Städte. Die Mehrheit der kleinen Städte, die bis dahin das Recht auf Selbstverwaltung besaßen, wurden in die Kategorie der Kleinstadt eingeordnet und fielen unter die Verwaltung der Adelshöfe oder sogar in privaten Besitz. Sofort wurde auch die Rekrutierungspflicht eingeführt (Dienstpflicht – 25 Jahre). Am längsten bewahrte die Verwaltung des örtlichen Adels ihre Eigenständigkeit, wenn auch nur im begrenzten Umfang. Die Gerichte urteilten noch vier Jahrzehnte nach dem Litauischen Statut. Die größte Angst löste bei der russischen Herrschaft der aktive Dorfkleinadel aus. Deshalb wurden Schritt für Schritt Pläne entwickelt zur Umsiedlung einer großen Anzahl (ca. 100 000) der Vertreter dieser Schicht auf die Krim, in den Kaukasus und in andere Gebiete zur Verteidigung der russischen Grenzen gegen Türken und Tataren. Doch der Tod der Herrscherin Jekatherina II. setzte diesem Plan ein Ende. Die Entwicklung von Litauen im 19. Jh. war immer von der Person abhängig, die auf dem russischen Thron saß.

Nach dem Untergang der Republik der zwei Nationen wurde Litauen von insgesamt sieben Herrschern regiert. Selbstverständlich haben sie alle ihren eigenen Herrscherstil miteingebracht. Deshalb widerspiegelt das Wort „Instabilität“ am besten das Leben in Litauen unter russicher Herrschaft. Die Regierungsperioden von Pavel I. und Alexander I. brachten Litauen etwas Erleichterung. Es gab sogar Pläne, die Union zwischen Polen und Litauen zu erneuern, indem man ein polnisches Königreich unter Protektorat Russlands bildete, und einige Zeit später entstand auch das Projekt zur Wiederherstellung des Großfürstentums Litauen unter dem Schutz Russlands. Mehr Bedeutung für Litauen hatte die Bildungsreform, deren Folge die Gründung des Bildungsbezirkes Vilnius wurde, mit der Universität Vilnius als Zentrum. Das Gebiet vereinte alle ehemaligen Gebiete des polnisch-litauischen Staates, die Russland zugefallen waren. Generell ist es schwierig, die Reformen der Herrscher als russifizierend zu bezeichnen. Die Russifizierungspolitik hatte keine so direkte Ausdrucksform wie in den Zeiten der Nachfahren von Nikolai I. Der Hauptzug der Machtausübung dieses Herrschers war die Verstärkung der Verfolgung und der Kontrolle der schon vorhandenen Machtorgane, indem neue Methoden geschaffen wurden, die der absolutistischen Macht helfen sollten, die gesamte Gesellschaft noch effektiver zu kontrollieren. Die Macht, die am Anfang noch die politisch- kulturelle Eigenart des ehemaligen Großfürstentums Litauen tolerierte, hatte ihre Ansichten komplett verändert. Diese Politik wurde „Politik der Vernichtung der Anfänge, die das Land von Russland trennten“, Depolonisierungspolitik oder einfach „Wiederherstellung der russischen Anfänge“ genannt. Sie beruhte auf der Theorie, nach der das Großfürstentum Litauen bis zur Annäherung an Polen in Wirklichkeit ein russischer Staat war und dass erst nach der Lubliner Union die Polen „die russischen Anfänge“ vernichtet und den russischen Staat oder Westrussland polonisiert hätten (die Anhänger dieser Theorie nannten Ostrussland „den Moskauer Staat“). Darum war die sogenannte „polnische“ Frage eine der größten Sorgen der zaristischen Administration: die Idee des unabhängigen polnisch-litauischen Staates der polnischen und litauischen Adligen (Russen hielten sie nur für polnischen Adel). Man versuchte also Litauen zu „depolonisieren“ und in der Zukunft mit dem russischen Imperium zu verschmelzen, d.h. die Macht streng zu zentralisieren. Doch für die konsequente Umsetzung der Politik der „Vernichtung der polnischen Anfänge“ reichten der zaristischen Macht die Kräfte nicht mehr aus. Umso mehr, weil das allgemeine kulturelle und Zivilisationsniveau in diesen Gubernien immer noch höher als in Russland war. Daher war das Hauptprinzip dieser Politik: was man nicht kontrollieren kann, muss man verbieten und beseitigen. Es wurde ein Erlass verabschiedet zur Konfiszierung der Güter der Aufständischen. In allen Machtinstitutionen wurde die russische Sprache eingeführt. 1832 wird die Universität Vilnius geschlossen und erst 1919 wiedereröffnet. Viele der Mittelschulen und der Klostergrundschulen wurden geschlossen. Besonders viele Schläge erlitt die katholische Kirche; man versuchte die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Macht und Kraft gegenüber der Orthodoxen Kirche zu vernichten. Mehr noch – man begann auch die historischen, die echten Ländernamen zu verändern. In den dreißiger Jahren wurden die litauischen Gubernien immer öfter in der russischen Presse und in den offiziellen Dokumenten „westliches Land“ genannt, was Westrussland bedeutete.

Teil II. Der Verwaltungsapparat von Litauen

Wirtschaftlich-politische Entwicklung


Geschichte von Litauen – Start

Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Litauen wurde in den schriftlichen Quellen (Quedlinburger Annalen) das erste Mal im Jahr 1009 erwähnt als ein Gebiet an der Grenze zu den altpreußischen Ländereien, wo böse Heiden den Hl. Bruno ermordet hätten. Doch der litauische „Fürst“ wollte sich nicht taufen lassen, und die Verfechter der Politik des Heiligen Rom – die polnischen und sächsischen Herrscher – waren nicht mächtig genug, um den heidnischen Stamm allein zur Taufe zu bringen. Zur Wende vom 17. zum 18. Jh., als nach wirtschaftlichem Aufstieg und Verbreitung der katholischen Kirche die neue Periode der Expansion der Mitte Europas zur Peripherie begann, war der im Entstehen begriffene litauische Staat stark genug, um sich aktiv am Geschehen in der nachbarschaftlichen Rus zu beteiligen, besonders am Handel auf dem Fluss Daugava (dt. Düna). Schon im Jahre 1200 entdeckten dänische und deutsche Kaufleute gewinnbringende Naturschätze auf dem Territorium des heutigen Estland und Lettland und auch die Möglichkeit, von den Handelsbeziehungen der örtlichen Stämme zu Skandinaviern und Russen zu profitieren. Diese Kaufleute brachten Missionare mit sich, die von Rittermönchen begleitet wurden. Nachdem der Deutsche Orden sich in den dreißiger Jahren des 13. Jh. erfolgreich an der Ostsee etabliert hatte, entstand eine weitere Verbindung zur mitteleuropäischen katholischen Welt. Nach dem Sieg gegen die altpreußischen und livländischen Stämme begann der Deutsche Orden ca. ab 1283 einen Krieg gegen Litauen, der fast 140 Jahre andauerte.
Im Jahr 1253 krönte der Papstlegat den litauischen Großfürst Mindaugas (1238–1263), der sich zuvor taufen ließ, zum König. So hat Mindaugas die erste zentrale Dynastie Litauens begründet. Unter seiner Führung eroberten die litauischen Fürsten erfolgreich den südlichen und westlichen Teil der Rus, auf der Suche nach neuen Ländereien als Ersatz für ihre eigenen, die dem Großfürsten abgetreten waren und sich in Litauen befanden. Mindaugas baute angeblich die Kathedrale in Vilnius und lud Kaufleute ein, sich in seinem Staat niederzulassen. In der südwestlichen Rus (Wladimir-Susdaler Rus oder Fürstentum Wladimir-Susdal) stießen die Litauer auf die polnischen, tschechischen und ungarischen Herrscher. Im folgenden Jahrhundert wurde Litauen endlich zum Kriegs-, Heirats-, Handels- und politischen Partner der mitteleuropäischen Königreiche. Bereits im Jahre 1290 hatte die Dynastie der Gediminaičiai oder Jogailaičiai (Gediminiden oder Jagiellonen), die das Großfürstentum Litauen und später auch Polen bis 1572 regierte, ihre Konkurrenten im Kampf um die Krone bereits ausschalten können.
Der litauische Großfürst Vytenis (1295–1315) verstärkte die Politik der Zusammenarbeit mit den Nachbarn von Rus und Livland, die Mindaugas begonnen hatte. Diese Politik wurde zum Symbol von Litauen als einem international handelndem Staat. Unter der Herrschaft seines Bruders Gediminas (1315/16–1341/42) näherte sich Litauen noch mehr der Diplomatie, dem Handel und der Religion Europas an. Die Europäer lernten die Litauer näher kennen, genauer gesagt, das vom Deutschen Orden geprägte Bild. Gediminas strebte an, die Beziehungen mit dem Papst und dem orthodoxen Patriarch zu stärken. Wie auch seine Nachbarn in Polen, im südwestlichen Rus sowie in den Gebieten des Deutschen Ordens lud er Spezialisten und Geistliche nach Litauen ein, indem er am 26. Mai 1323 an die Dominikaner in Sachsen einen Brief verfassen ließ:
Darum bitten wir, dass in den Städten, Palästen und Dörfern, in denen gepredigt wird, dieses den Menschen verkündet werden möge: Wenn sich Ritter und Schildknappen finden würden, würden wir ihnen Einnahmen und Land zum Bearbeiten auf Wunsch zusichern. Den Kaufleuten, Schmieden, Stellmachern, Armbrustschützen, Schustern, allen anderen Handwerksleuten mit ihren Frauen, Kindern und Tieren erlauben wir, frei in unser Land zu kommen und es zu verlassen ohne Steuern oder Zoll und andere Hindernisse.
Das litauische Imperium dominierte vor allem in Schwarzer und Weißer Rus. Die Stadt Grodno (erobert 1250) war ein wichtiger Handelsplatz auf den Wegen von Mazovien und Altpreußen nach Kiew und in die Schwarzmeer-Region. Weitere wichtige Handelsplätze auf dem Daugava-Handelsweg (nach dem Fluss Daugava benannt) waren Polozk, Vitebsk sowie Nowgorodok, die auch Smolensk in die litauische Einflusszone einbezogen. Kiew, das die Mutter aller russischen Städte genannt wird, stand unter litauischem Einfluss (1323–1362) und wurde seit 1362 von den Litauern mehr als 200 Jahre regiert. Im 14. Jh. strebten es die Herrscher Litauens an, sich durch Heirat mit den Nachbarschaftsdynastien zu verbinden, denn dies war ein wichtiger zusätzlicher Faktor neben der gemeinsamen Kriegs- und Handelspolitik. So wurden die Macht in den eroberten Territorien gefestigt und Verbündete gewonnen.
Algirdas Gediminaitis (1345–1377) setzte die Politik seines Vaters Gediminas fort, indem er, wenn auch unverbindlich, erklärte, dass der Deutsche Orden den größeren Teil der Ländereien an der Ostseeküste ihm übergeben und das Großfürstentum als Herrscher über die ganze Rus anerkennen sollte. Nach dem Tod Algirdas wurde das zerbrechliche Bündnis der Gediminiden durch die Kämpfe zwischen dem Nachfolger Algirdas, Jogaila (Jogiello) und dessen Onkel Kęstutis sowie Cousin Vytautas geschwächt. Im Jahre 1385 schickte Jogaila nach beendetem Streit mit Vytautas eine Delegation mit dem Auftrag, um die Hand der Jadwiga (Hedwig) von Anjou, der polnischen Kronfolgerin, anzuhalten. Mit diesem tapferen politischen Zug wollte der Großfürst weitere Ländereien für sich gewinnen, ohne auf den Status des „höchsten“ Herrschers in Litauen zu verzichten, und einen Verbündeten gegen den Deutschen Orden gewinnen. Der Deutsche Orden war wiederum dazu geneigt, Verschwörungen zusammen mit Vytautas gegen Jogaila zu planen. Die Hauptsache, mit welcher Jogaila (König Wladyslaw II von Polen seit 1386) für all das bezahlen musste, war die Taufe Litauens nach Sitte der römisch- katholischen Kirche und die Zusammenführung des Großfürstentums Litauen mit dem Königreich Polen. Nach einigen Machtkämpfen einigten sich Jogaila und Vytautas. Im Zeitraum 1392-1430, auf dem Höhepunkt der Geschichte des Landes, regierte Vytautas Litauen als Großfürst, doch unter der Bedingung, dass nach dem Tod von Vytautas der Thron wieder an Jogaila und seine Nachfolger zurückgeht. Im Jahre 1410 besiegten die vereinten Kräfte des Großfürstentums Litauen und des Königreichs Polen den Deutschen Orden in der Schlacht bei Tannenberg (lit. Žalgiris), was bis heute den Anfang vom Niedergang des Deutschen Ordens symbolisiert. Die politische Union mit Polen kann man am besten als einen taktischen Zug der Dynastie verstehen, bei dem der wichtigste Gediminide versuchte, die Macht seines Verwandten bei der Machtaufteilung nach dem alten Verwandtschaftsgesetz einzugrenzen. Nach dem Tod Jogailas (Jagiello) im Jahr 1434 blieben beide Staaten fest in der Hand seiner Frau und seiner Söhne sowie ihrer Anhänger. Der jüngste Sohn Jogailas Kasimir (lit. Kazimieras), Großfürst (1440–1492) und König von Polen seit 1447, weigerte sich, das Großfürstentum Litauen mit seinen Cousins oder ihren Söhnen zu teilen.
Zu der Zeit, als der Herrscher nicht mehr in Vilnius residierte, erhielt der litauische Adel die Gelegenheit zur Entwicklung des Verständnisses, dass seine Interessen auch Interessen Litauens sind, und dass sie verpflichtet sind, am politischen Geschehen teilzunehmen – ihr Reifungsprozess ist an den Verträgen zur politischen Union mit Polen (1413 und 1569) und an den Adelsprivilegien (1447, 1492) zu erkennen. Dieses politische Bewusstsein, gefestigt durch die Lubliner Union (1569), herrschte in Litauen bis zum Ende des Großfürstentums. Nach dem Verschwinden der Jagiellonen-Dynastie 1572, wurde in Lublin 1569 die Republik zweier (Polen und Litauen) Nationen gegründet, die durch von litauischen und polnischen Adligen gewählte Könige regiert wurde. Diesen Zeitraum bis zum Ende des 18. Jh. kann man als das goldene Zeitalter der Adelsdemokratie bezeichnen.
Nach der Annahme des christlichen Glaubens (1387) fingen die Städte an sich schnell zu entwickeln. Trakai, Kaunas, Polotsk, Slutsk, Pinsk, Brest erhielten die Magdeburger Rechte, die die Vilniuser zu diesem Zeitpunkt bereits genossen. Es wurde meist mit Getreide gehandelt (Darüber gibt es Berichte schon aus dem 13. Jh. – Fakten über Handelswege, die über Riga, Königsberg, Danzig, Poznan, Lublin gingen.), mit Leinen und Forsterzeugnissen (Pelzen, Honig, Holz). Es wurden überwiegend Salz, Eisen, Eisenerzeugnisse importiert. 1400–1532 gab es in Kaunas ein Hanse-Kontor, das am stärksten von den Wachshändlern aus Danzig genutzt wurde.

Die Wiederherstellung der Republik Litauen


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Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
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Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

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Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Trotz der gigantischen Versuche der Sowjetmacht, die Litauer zu sowjetisieren und das nationale Bewusstsein zu beseitigen, ist ihr dieses nicht gelungen. Als die „Perestroika“ von Gorbatschow die lähmende Atmosphäre der Angst beseitigte, die eine wesentliche Grundlage der UdSSR bildete, wurde die sowjetisierte Masse wieder zum litauischen Volk. Litauen deklarierte als erste der ehemaligen Sowjetrepubliken am 11. März 1990 die Wiederherstellung des unabhängigen Staates. Der misslungene Augustputsch 1991 erledigte die Restarbeit: Aus der Litauischen SSR wurde die Republik Litauen, und Ende des 20. Jh. wiederholte sich scheinbar die Geschichte. Nach 1990 erhielten die litauischen Bürger die Möglichkeit, ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, eine eigene Zukunft zu schaffen nach einem von der Gesellschaft freiwillig gewählten Modell. Das erste Jahrzehnt der neuen Unabhängigkeit hat offensichtlich gezeigt, dass die demokratischen Werte zur Grundlage einer neuer Gesellschaft geworden sind.

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen


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Die Wiederherstellung der Republik Litauen

In Litauen entbrannte ein halb organisierter, halb spontaner Aufstand gegen die fliehende Rote Armee, es wurde eine Deklaration zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit verabschiedet und eine Übergangsregierung gebildet. Für Deutschland war Litauen nur ein besetztes sowjetisches Territorium, darum wurde es als Generalbezirk Litauen in das „Ostland“ eingegliedert. Neben der deutschen Besatzungsverwaltung wurde eine machtlose litauische Zivilverwaltung ohne Kompetenzen gebildet.
In den drei Jahren der Okkupation haben die Nazis sehr viele Greueltaten in Litauen angerichtet, doch die größte und die entsetzlichste ist die Ermordung von 200.000 (ca. 90%) litauischen Juden. In der Geschichte Litauens wurden noch nie so systematisch in einer so kurzen Zeit so viele Einwohner vernichtet. An der Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben beteiligte sich auch die Übergangsregierung, die diskriminierende Gesetze gegen die Juden verabschiedete, außerdem nahmen einige Sicherheitsbataillone an den Vernichtungsaktionen gegen die Juden teil. Nur einzelne Litauer, die ihr eigenes oder das Leben ihrer Familien aufs Spiel setzten, haben Juden geholfen.
Es ist ein Paradoxon, doch indem die Deutschen den Litauern die Aussicht auf ihre eigene Staatlichkeit nahmen, taten sie den Litauern einen Gefallen, denn deren Lust sank rapide, sich dem Erschaffen „des neuen Europa“ anzuschließen. Aufgrund der brutalen deutschen Politik entstanden bereits Ende 1941 verschiedene antifaschistische Untergrundorganisationen, die eine systematische antinazistische Propaganda betrieben und zum Scheitern der Mobilisierung in die SS-Legionen im Winter 1943 beitrugen. Solange die Front noch weit genug entfernt war, hofften die Litauer, dass die westlichen Länder die Rote Armee vor den Grenzen Litauens stoppen würden, da die Mehrheit der westlichen Länder den Beitritt der baltischen Länder zur UdSSR nicht anerkannte. Solche Hoffnungen wurden durch die von Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt am 8. August 1941 verabschiedete Atlantik- Charta genährt. Der Glaube an diese Deklaration, in der das Recht jedes Volkes auf Wiederherstellung der von den Aggressoren geraubten Unabhängigkeit bekräftigt wurde, verschwand auch nicht, als im Sommer 1944 die Rote Armee Litauen zu „befreien“ begann. Man hoffte darauf, dass die westlichen Demokratien nach Kriegsende Stalin zwingen würden, sich aus den besetzten Ländern zurückzuziehen. Doch Stalin behielt nicht nur alle Territorien, die er sich im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt 1939-1940 gesichert hatte, sondern kolonisierte auch das ganze Mittelosteuropa.
Der Wille der in den Flammen des Krieges untergegangenen Staaten, aus ihrer Asche aufzuerstehen, wurde mißachtet und fügsame Polizeiregimes installiert. Litauen, Lettland und Estland fanden sich bereits ohne den Deckmantel der angeblichen Staatlichkeit in der Situation der am meisten Benachteiligten wieder. Dieses Mandat erhielt Stalin von den Alliierten bereits vor dem Ende des Krieges auf der Jalta-Konferenz, die zum Symbol der Nachkriegsteilung Europas wurde.
In Litauen entstand nach dem Krieg ein spontaner Widerstandskampf, der große Ausmaße annahm und bis 1953 dauerte. Man könnte denken, dass dies ein unverantwortliches Abenteuer war, welches zahlreiche Opfer forderte (in den Wäldern fielen ca. 20 000 Partisanen) und keine Aussicht auf Erfolg hatte. Doch es ist das Schicksal der Besiegten, dass ihnen im Nachhinein die Fehleinschätzung ihrer Situation vorgeworfen wird.
Man muss aber auch akzeptieren, dass auf der einen Seite die Widerstandsbewegung sehr brutal erstickt wurde, jedoch auf der anderen Seite auch die Widerstandskämpfer sinnlose und durch nichts zu rechtfertigende Brutalität nicht vermeiden konnten. Aus späteren Untersuchungen wird deutlich, dass die Mehrheit der durch die Hand des Widerstandes getöteten Menschen nicht aktive Funktionäre der sowjetischen Macht oder deren Anhänger waren, sondern einfache Bauern, Dorfbewohner und Bewohner von Kleinstädten.
Seit dem Winter 1945 fuhren erneut Züge mit Deportierten in Richtung Osten. Die Statistik zeigt, dass in der Nachkriegszeit, bis zum Herbst 1953, insgesamt 34 Deportationen von Bewohnern Litauens stattfanden und mehr als 110 000 Menschen in die Tiefen der Sowjetunion deportiert wurden. Die Deportationen wurden kaltblütig geplant, indem man Listen nach aus Moskau übermittelten Quoten aufstellte und die Zahl der Waggons und Lastwagen vorsah und festlegte, wie viele und welche Gegenstände mitgenommen werden durften und wem das konfiszierte Vermögen zufiel. Offiziell nannte man dies den Kampf gegen Anhänger der Partisanen (nach sowjetischen Terminologie – Banditen) und Großbauern (buožės). Erst nach dem Tode Stalins, mit Beginn des politischen Tauwetters, musste die Sowjetmacht sogar selbst eingestehen, dass es „Übertreibungen“ und Verletzungen des „sozialistischen Rechts“ gegeben hatte.

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