Teil II. – Der Verwaltungsapparat von Litauen


Geschichte von Litauen – Start

Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Mit der Thronbesteigung des neuen Zaren Alexander I. Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jh. begann erneut das politische Tauwetter. Dieser Herrscher schlug einen Reformweg ein. Die politischen Verbannten und politischen Emigranten wurden amnestiert. Die litauischen Adligen durften wieder die administrativen Posten im eigenen Land besetzen. Es wurde die Hoffnung gefördert, dass die Universität Vilnius wiedereröffnet wird. Mehr noch –1861 wurden die Bauern im russischen Imperium aus der Leibeigenschaft entlassen, bekamen das Recht zum Erwerb und der Verwaltung eigenen Bodens, durften eine Beschäftigung oder ein Geschäft wählen – wurden also zu Subjekten des allgemeinen Zivilrechts. Doch die Nationalitätenpolitik wurde von der neuen Regierung nicht verändert.

Deshalb entwickelte sich Anfang der sechziger Jahre in Polen und Litauen ein Aufstand, nach dessen Niederlage die Regierung ein spezielles Programm vorbereitete: “Wiederherstellung der russischen Anfänge“. Das Programm sah vor: 1) die polnische Sprache ganz aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen, 2) den Personen „polnischer Abstammung“- faktisch allen Menschen katholischen Glaubens, also auch den ethnischen Litauern, das Besetzen von staatlichen Positionen zu verbieten, 3) bei der Auswahl von Beamten orthodoxe Russen zu bevorzugen, 4) auf jede Art und Weise die katholische Kirche zu kontrollieren und einzuschränken, 5) die Bedingungen für die Verbreitung des orthodoxen Glaubens schaffen, 6) die Übersiedlung von Russen in das sogenannte Westland fördern, 7) das lateinische Alphabet durch das russische zu ersetzen und so den Druck litauischer Texte im lateinischen Alphabet ganz zu verbieten. Es wurde gedacht, dass durch einen derart gesteuerten kontinuierlichen Aufbau der Kultur- und Bildungseinrichtungen, durch die Verbreitung der russischen Schrift, durch die Unterstützung des orthodoxen Glaubens, durch das Vorhandensein einer großen Zahl von russischen Beamten und Lehrern, durch die Förderung der Ansiedlung russischen Adels und russischer Bauern, allmählich – in ca. zwanzig Jahren – die neue Generation dieses Landes es schafft, die russische Denkweise und Lebensweise anzunehmen. Nachdem das Programm verabschiedet wurde, begann im Land eine offene Russifizierung.

Noch 1864 wurde befohlen, die litauischen Schriften (Fibeln, offizielle Drucke, Lesebücher) in kyrillischer Schrift zu drucken. Es war verboten, Drucke in lateinischer Schrift aus dem Ausland einzuführen. Obwohl das Verbot der litauischen Schrift nicht formell per Gesetz verabschiedet wurde, wurde es vierzig Jahre lang befolgt. Und wieder wurden im Land die katholischen Kirchen massenhaft geschlossen, man fing an, orthodoxe Kirchen zu bauen. Die Güter der am Aufstand beteiligten Adligen wurden konfisziert, andere Höfe wurden mit großen Reparationszahlungen belegt. Der Kriegszustand im Lande wurde erst nach neun Jahren aufgehoben.
Nachdem Alexander III. den Thron bestiegen hatte, versuchte man auch weiter fleißig die Wiederherstellungspolitik der „russischen Anfänge“ zu verfolgen. Doch die erwachende und sich illegal ausbreitende litauische Nationalbewegung, an der auch breite Bauernschichten beteiligt waren, konnte durch keine Maßnahmen mehr gestoppt werden. Es wurde immer deutlicher, dass mindestens im ethnografischen Litauen die Politik der Wiederherstellung der „russischen Anfänge“ nicht die erwarteten Erfolge aufwies. Seit der Krönung Nikolai II. Mitte der neunziger Jahre des 19. Jh. konnte man bereits über die Machtkrise der Nationalpolitik sprechen. Darum wurde im Frühling 1904 das Verbot der litauischen Schrift aufgehoben. In manchen Schulen des Vilniusser Bildungsgebietes wurde erlaubt, Polnisch und Litauisch zu lehren. Sowohl Litauer als auch Polen bekamen den Status nationaler Minderheiten. Doch die Situation Litauens und der Litauer änderte sich nicht nur wegen der Zugeständnisse der Herrscher, die das Litauersein legalisierten, sondern auch durch starke Veränderungen im sozialen und politischen System des russischen Imperiums. Als Nikolai II. 1905 das entsprechende Manifest unterschrieb, schenkte er den Bürgern Russlands „feste Grundlagen für bürgerliche Freiheiten“. Diese Grundlagen sind: die Unantastbarkeit des Individuums, Freiheit des Gewissens und des Wortes, Versammlungs- und Bündnisfreiheit. Ein Jahr später fanden die ersten Wahlen in die Staatsduma statt – des von den Bürgern gewählten beratenden Gesetzgebungsorgans, ohne dessen Beschluss kein einziges Gesetz verabschiedet werden konnte. Jetzt hatte die Bevölkerung des russischen Imperiums, also auch die Bürger auf litauischem Boden, das Recht, ihre eigenen Vertreter in die Duma zu wählen und dadurch in einem bestimmten Ausmaß an der Verwaltung des Landes teilzuhaben, sie konnten zumindest offen ihre Meinung äußern.

Doch die Litauer wurden, wie auch andere ihre Interessen vertretende kleinere Völker des russischen Imperiums, immer noch als eine ethnische Minderheit gesehen. Sowohl die Machthaber als auch die Mehrheit russischer politischer Parteien und gesellschaftlicher Gruppierungen hielten das Imperium eher für homogen und nicht teilbar und vor allem für einen russischen Staat. Die nationalistischen Organisationen verfolgten immer noch die Wiederherstellungspolitik der “russischen Anfänge“. Doch mit Anfang des 20. Jh. eröffnete sich die Möglichkeit, verschiedene gesellschaftliche Organisationen, Kulturvereine, politische Parteien zu gründen und zu legalisieren. Den Privatpersonen wurde erlaubt, mit eigenen Mitteln litauische und polnische Grundschulen zu gründen.

Teil I.: Der Verwaltungsapparat Litauens

Der Verwaltungsapparat Litauens


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Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Seit dem Ende des 18. Jh. wurde die russische Administration zum wichtigsten politischen Regierungsinstrument auf dem Territorium von Litauen. Unmittelbar nach Unterzeichnung des Vertrages zwischen Preußen und Österreich wurden die Institutionen des ehemaligen Staates Polen – Litauen aufgelöst. Der Königstitel, die hohen Beamten des Großfürsten (urėdai), die Adelstitel und die Bürgerschaft wurden abgeschafft. Vilnius wurde Residenz des Generalgubernators. Die Gubernien wurden in Kreise aufgeteilt. Der administrative Apparat Litauens und das Recht wurden langsam dem russischen Apparat und Recht angeglichen. Die Regierung versuchte in den besetzten Territorien eine Schicht des russischen Adels zu etablieren – die Staatsgüter wurden konfisziert, ein Teil der Güter, die sich im Besitz der katholischen und unierten Kirchen oder der Klöster befanden und die Adelshöfe, deren Besitzer den Eid auf die neue Herrschaft verweigerten, wurden den russischen Adligen zugeteilt. Weiterhin gab es Änderungen in der Verwaltung der Städte. Die Mehrheit der kleinen Städte, die bis dahin das Recht auf Selbstverwaltung besaßen, wurden in die Kategorie der Kleinstadt eingeordnet und fielen unter die Verwaltung der Adelshöfe oder sogar in privaten Besitz. Sofort wurde auch die Rekrutierungspflicht eingeführt (Dienstpflicht – 25 Jahre). Am längsten bewahrte die Verwaltung des örtlichen Adels ihre Eigenständigkeit, wenn auch nur im begrenzten Umfang. Die Gerichte urteilten noch vier Jahrzehnte nach dem Litauischen Statut. Die größte Angst löste bei der russischen Herrschaft der aktive Dorfkleinadel aus. Deshalb wurden Schritt für Schritt Pläne entwickelt zur Umsiedlung einer großen Anzahl (ca. 100 000) der Vertreter dieser Schicht auf die Krim, in den Kaukasus und in andere Gebiete zur Verteidigung der russischen Grenzen gegen Türken und Tataren. Doch der Tod der Herrscherin Jekatherina II. setzte diesem Plan ein Ende. Die Entwicklung von Litauen im 19. Jh. war immer von der Person abhängig, die auf dem russischen Thron saß.

Nach dem Untergang der Republik der zwei Nationen wurde Litauen von insgesamt sieben Herrschern regiert. Selbstverständlich haben sie alle ihren eigenen Herrscherstil miteingebracht. Deshalb widerspiegelt das Wort „Instabilität“ am besten das Leben in Litauen unter russicher Herrschaft. Die Regierungsperioden von Pavel I. und Alexander I. brachten Litauen etwas Erleichterung. Es gab sogar Pläne, die Union zwischen Polen und Litauen zu erneuern, indem man ein polnisches Königreich unter Protektorat Russlands bildete, und einige Zeit später entstand auch das Projekt zur Wiederherstellung des Großfürstentums Litauen unter dem Schutz Russlands. Mehr Bedeutung für Litauen hatte die Bildungsreform, deren Folge die Gründung des Bildungsbezirkes Vilnius wurde, mit der Universität Vilnius als Zentrum. Das Gebiet vereinte alle ehemaligen Gebiete des polnisch-litauischen Staates, die Russland zugefallen waren. Generell ist es schwierig, die Reformen der Herrscher als russifizierend zu bezeichnen. Die Russifizierungspolitik hatte keine so direkte Ausdrucksform wie in den Zeiten der Nachfahren von Nikolai I. Der Hauptzug der Machtausübung dieses Herrschers war die Verstärkung der Verfolgung und der Kontrolle der schon vorhandenen Machtorgane, indem neue Methoden geschaffen wurden, die der absolutistischen Macht helfen sollten, die gesamte Gesellschaft noch effektiver zu kontrollieren. Die Macht, die am Anfang noch die politisch- kulturelle Eigenart des ehemaligen Großfürstentums Litauen tolerierte, hatte ihre Ansichten komplett verändert. Diese Politik wurde „Politik der Vernichtung der Anfänge, die das Land von Russland trennten“, Depolonisierungspolitik oder einfach „Wiederherstellung der russischen Anfänge“ genannt. Sie beruhte auf der Theorie, nach der das Großfürstentum Litauen bis zur Annäherung an Polen in Wirklichkeit ein russischer Staat war und dass erst nach der Lubliner Union die Polen „die russischen Anfänge“ vernichtet und den russischen Staat oder Westrussland polonisiert hätten (die Anhänger dieser Theorie nannten Ostrussland „den Moskauer Staat“). Darum war die sogenannte „polnische“ Frage eine der größten Sorgen der zaristischen Administration: die Idee des unabhängigen polnisch-litauischen Staates der polnischen und litauischen Adligen (Russen hielten sie nur für polnischen Adel). Man versuchte also Litauen zu „depolonisieren“ und in der Zukunft mit dem russischen Imperium zu verschmelzen, d.h. die Macht streng zu zentralisieren. Doch für die konsequente Umsetzung der Politik der „Vernichtung der polnischen Anfänge“ reichten der zaristischen Macht die Kräfte nicht mehr aus. Umso mehr, weil das allgemeine kulturelle und Zivilisationsniveau in diesen Gubernien immer noch höher als in Russland war. Daher war das Hauptprinzip dieser Politik: was man nicht kontrollieren kann, muss man verbieten und beseitigen. Es wurde ein Erlass verabschiedet zur Konfiszierung der Güter der Aufständischen. In allen Machtinstitutionen wurde die russische Sprache eingeführt. 1832 wird die Universität Vilnius geschlossen und erst 1919 wiedereröffnet. Viele der Mittelschulen und der Klostergrundschulen wurden geschlossen. Besonders viele Schläge erlitt die katholische Kirche; man versuchte die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Macht und Kraft gegenüber der Orthodoxen Kirche zu vernichten. Mehr noch – man begann auch die historischen, die echten Ländernamen zu verändern. In den dreißiger Jahren wurden die litauischen Gubernien immer öfter in der russischen Presse und in den offiziellen Dokumenten „westliches Land“ genannt, was Westrussland bedeutete.

Teil II. Der Verwaltungsapparat von Litauen

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