Geschichte von Litauen – Start

Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Tatsächlich war die litauische Geschichte des 19. Jh. nicht nur die Geschichte der Verschwörungen, Aufstände und Kriege. Wie paradox es auch erscheint, ist das 19. Jh. trotz des Zustands der Unfreiheit und schmerzhafter physischer und moralischer Erschütterungen eine der schönsten Perioden in der Geschichte Litauens.
Das Leben ging seinen Weg in Richtung Fortschritt. Natürlich erreichte die Wirtschaft von Litauen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nicht die gleiche Höhe. Eine Belebung konnte man erst am Ende des 19. Jahrhunderts feststellen. Auf der Grundlage der ersten Bevölkerungszählung des russischen Reiches lebten 1897 auf dem Territorium des heutigen Litauens ca. 2,5 Mio. Menschen. 87,3% von ihnen lebten auf dem Lande und nur 12,7% in der Stadt. Die Struktur der Schichten war folgende: Bauern – 73,4%, Stadtbewohner – 20%, Adel – 5,2%, die Zahl der Vertreter aus anderen Schichten war gering.
Während Litauen ein Agrarland blieb, verblieb es gemessen an materiellen Merkmalen an der Peripherie der großen europäischen Prozesse. Dagegen konnte man auf dem Gebiet Kultur des 19. Jh. nur schwer von Rückständigkeit sprechen. Trotz aller Bemühungen gelang es dem russischen Imperium nicht, kulturelle Abgrenzungen zu schaffen, die zur Isolierung des Landes von der restlichen Welt geführt hätten.
Man sollte die Tatsache hoch bewerten, wie rasch hier am Rande des russischen Imperiums die Ideen der westlichen Zivilisation Anklang fanden. In dieser Zeit bildeten sich nicht nur die professionelle litauische Literatur, Kunst, Musik und Architektur, sondern auch Fotografie, Bibliothekswissenschaft, Museumswissenschaft und Theater heraus. Dieses Jahrhundert zeichnete sich durch kontinuierliches intellektuelles Schaffen aus. Vilnius und seine Universität hatten ohne Zweifel die größte Bedeutung für das kulturelle Leben in Litauen. In den Händen der Universität lagen nicht nur die Angelegenheiten der Bildung und Wissenschaft. Auf Initiative ihrer Professoren entstanden in Litauen die ersten Kultur- und Bildungsvereine. An der Universität konzentrierte sich die Forschung und die Herausgabe wissenschaftlicher Bücher. Man konnte sich also vorstellen, was für ein Schlag für das kulturelle Leben Litauens die Schließung dieser Wissenschaftseinrichtung war. Vilnius verlor seine Rolle als Zentrum und Organisator dieser Bewegung.
Die anderen Städte Litauens waren sowohl wirtschaftlich als auch kulturell sehr schwach entwickelt. Hier dominierten Vertreter anderer Ethnien – Juden, Russen und Polen (Ende des 19. Jh. machten die Juden 63,5% der Stadtbewohner aus.). Dadurch war es nur natürlich, dass nach der Schließung der Universität Vilnius die kulturelle Tätigkeit in die Dörfer und Höfe zurückkehrte, die seit eh und je untrennbar mit der intellektuellen, kulturellen Tätigkeit verbunden waren.
Im 19. Jh. veränderte sich die Rolle der Kultur im gesellschaftlichen Leben sehr stark. Man begann, das kulturelle Schaffen als eine besonders wichtige und bedeutsame Tätigkeit anzusehen, die direkt verbunden war mit der Erhaltung der Nation und ihrer Identität. Nach dem ersten Schock, den die Republik der zwei Nationen nach dem Verlust der Unabhängigkeit erlitten hatte und man annahm, dass der Niedergang des litauischen Staates auch den Niedergang des litauischen Volkes bedeutete, stellte man fest, dass das Volk auch ohne Staat weiter existierte und seine Staatlichkeitstraditionen weiter pflegte.
Tatsächlich verstand man die Nation als Nation des Adels – darum begann man, den Adelshof als den einzigen Bewahrer kultureller Werte und der Unabhängigkeitsidee zu betrachten. Nicht wenige an ihren Höfen lebende und schaffende Adlige vertrieben sich nicht nur die Zeit, sondern fühlten sich auf einer wichtigen Mission zur Erhaltung der Nation und der Nationalität, indem sie mit ihrem literarischen Schaffen die Sprache pflegten, durch historische Forschungen das historische Gedächtnis erneuerten, durch religiöse und moralische Schriften die Erneuerung der Gesellschaft förderten und durch wissenschaftliche Publikationen die Bildung verbreiteten. Russland entdeckte recht bald die Bedeutung der kulturellen Tätigkeit an den Adelshöfen Litauens. Darum versuchte man nach Ersticken des Aufstandes von 1863, als alle Bemühungen der neuen Machthaber auf die Kultur- und Bildungssphäre gerichtet wurden, nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die kulturellen Positionen des Adels im Lande zu schwächen. Tatsächlich wurde die kulturelle Tätigkeit in den Höfen verborgener. Viele der Höfe und Gutshäuser wählten, eingeschränkt durch wirtschaftliche Sanktionen, diese einzig richtige Überlebensstrategie.
Die Herrscher richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die litauisch und weißrussisch sprechenden Bauern, in der Hoffnung, dass es durch Schulen gelingen würde, ihnen Russisch beizubringen und aus ihren Reihen eine Schicht von Intellektuellen heranzuziehen, die für die russische Kultur aktiv würden. Die Machthaber glaubten, dass man dieses Ziel innerhalb von ca. 20 Jahren erreichen kann.
Zweifellos sollte die Schule die führende Rolle im Russifizierungsprogramm Litauens einnehmen, vor allem die Grundschule. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft stieg der Bedarf an Bildung und elementarer Alphabetisierung, darum mussten die meisten Bauern nicht vom Nutzen des Schreibenlernens für ihre Kinder überzeugt werden. Andererseits wurde in der offiziellen Schule die traditionelle Nationalschrift nicht gelehrt; daher muss man diese Art von Schulen negativ einschätzen. Beim Boykott der staatlichen Grundschulen wurden die von den Bürgern selbst geführten und unterstützten geheimen Dorfschulen und die sogenannte „Schule der Mutter“, in der die Muttersprache gelehrt wurde, zur wichtigsten Einrichtung in der Bildungstätigkeit Litauens.

Teil II. Die Geschichte der Zivilgesellschaft

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