Geschichte von Litauen – Start

Litauen im 13.–18. Jahrhundert
Wirtschaftlich-politische Entwicklung
Die Anfänge der multikulturellen Geschichte
Das kulturelle Leben

Litauen im 19. Jahrhundert
Der Verwaltungsapparat Litauens
Der Verwaltungsapparat von Litauen Teil II.
Der Widerstand
Die Geschichte der Zivilgesellschaft
Die Geschichte der Zivilgesellschaft Teil II.

Die Republik Litauen (1918–1940)
Wirtschaft, Politik und Kultur
Die nationalen Minderheiten in Litauen
Der Untergang der litauischen Republik

Krieg und Nachkriegszeit in Litauen
Wirtschaft und kulturelles Leben
Die Anpassung

Die Wiederherstellung der Republik Litauen

Die Inhalte, die Russland nach Litauen brachte, unterschieden sich sowohl im politischen als auch im kulturellen Sinn sehr von der früheren Lebensweise in diesem Gebiet. Darum ist es natürlich, dass eine solche Situation Litauens für viele seiner Bewohner als eine Übergangssituation verstanden wurde und man auf die Gelegenheit wartete, den alten Staat, die Republik der zwei Nationen, wieder zu gründen. Einerseits versuchten die litauischen gesellschaftlichen Eliten bei jeder Gelegenheit, ihr eigenes Schicksal mit dem Schicksal Polens, das mindestens aus politischer Sicht in einer besseren Situation war, zu verknüpfen. Andererseits wurde die Forderung auf einen unabhängigen Teil des gemeinsamen Staates erhoben. Die Herrschaft Russlands bedeutete ein endgültiges Ende der politischen Tradition, und die Litauer wurden dabei zum historischen Volk oder verloren den Charakter eines eigenständigen Volkes, während das Verknüpfen des eigenen Daseins mit Polen die Möglichkeit einer Teilrestauration der Staatlichkeit bedeutete. Das gesamte 19. Jh. stand Litauen also vor der Alternative: Existenz Litauens im Bündnis mit Polen oder Nichtexistenz Litauens innerhalb von Russland. Die absolute Mehrheit des Volkes hätte ohne Zweifel die erste Variante gewählt. Obwohl das von Russland annektierte Großfürstentum Litauen in wenigen Jahrzenhnten in ein anonymes West- oder Nordwest – Land verwandelt wurde, tauchten die Konturen seiner Staatsintentionen immer wieder kurz auf, besonders während der Aufstände. Obwohl alle Aufstände erfolglos blieben und alle Verschwörungen aufgeklärt wurden, blieb dieser Kampf Symbol seiner Zeit.

Der Anfang der Befreiungskämpfe ist zweifellos der Aufstand unter der Leitung Tadeusz Koœciuszko im Jahre 1794. Dabei bildeten sich die wichtigsten Züge heraus, die man später auch bei den anderen Befreiungskäm­pfen findet. Schon bei diesem Aufstand konnte man die Bestrebungen der litauischen Aufständischen erkennen, eine gewisse Unabhängigkeit dieses Landes von Polen zu deklarieren und damit eine gewisse Selbstständigkeit im Kampf gegen Russland zu zeigen. Eine andere Besonderheit dieses Aufstandes, die zur Tradition des Befreiungskampfes im 19. Jh. wurde, waren die Bestrebungen, die litauischen Bauern in einer ihnen verständlichen Sprache anzusprechen und sie so auf die eigene Seite zu ziehen. Andererseits waren auch die Bemühungen der Russen offensichtlich, die Bauern gegen den Adel aufzubringen und so die Kräfte der Aufständischen zu spalten. Ein weiterer Zug dieser und späterer Aufstände war eine große Welle politischer Emigration, in deren Folge nach zwei anderen Aufständen in Westeuropa, besonders in Frankreich, Vereinigungen der litauischen und der polnischen Emigranten gegründet wurden, in denen politische und militärische Formierungen und radikalste Vorhaben reiften.

Zweifellos hing die Befreiung von der russischen Herrschaft direkt von der internationalen Lage ab. Die einzige Kraft, die Anfang des 19. Jh. Russland und seinen Verbündeten Österreich und Preußen trotzen konnte, war Napoleons Frankreich. Während seines siegreichen Zuges durch Europa versuchte Napoleon mit diplomatischen Mitteln die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Republik zweier Nationen und auf die Befreiung von Unterdrückung wiederzubeleben. Nach Behauptungen französischer Informanten war Litauen bereit, mit seinem Aufstand die Handlungen der Napoleonischen Truppen zu unterstützen. Obwohl nicht genau festgestellt werden konnte, wie viele Litauer auf französischer Seite gekämpft haben, vermutet man, dass während der ganzen Napoleonperiode ca. 200 000 litauische und polnische Männer in den französischen Legionen verzeichnet waren. Ungefähr die Hälfte von ihnen ist gefallen, und das Volk Litauens selbst wurde enttäuscht. Die Enttäuschung der litauischen Gesellschaft wurde sowohl durch den Tilsiter Frieden verstärkt, als auch durch den kurzen Aufenthalt der Franzosen am Fluss Memel (lit. Nemunas). Im Jahr 1812 wurde Napoleon in Vilnius genauso enthusiastisch empfangen wie er es sich auch erhofft hatte. Doch die allgemeinen Demokratisierungstendenzen und Nationalbestrebungen, zweifellos eine Folge des französischen Zeitalters, halfen dem litauischen Volk, seine Rechte als Volk zu begreifen und die Freiheitsidee zu bewahren. Ganz deutlich zeigten dies die Ereignisse 1830–1831: ein neuer, ebenfalls niedergeschlagener Aufstand gegen die Herrschaft Russlands. Obwohl man wenig über das politische Programm der litauischen Aufständischen weiß und schwer zu sagen ist, wie sie sich Litauen vorstellten, obwohl ihr Hauptziel die Befreiung von der russischen Herrschaft war, ist es wichtig zu erwähnen, dass eben durch diese Ereignisse nicht nur der Adel, sondern auch die Bauern allmählich zu verstehen begannen, was der Begriff Heimat bedeutet.

Immer lauter wurden die Forderungen der Bauern nach Freiheit und Land, weswegen sie den Aufstand unterstützten. Dies wurde besonders offensichtlich während eines anderen Aufstands 1863. Obwohl das Hauptziel des Aufstands politisch war – Wiederherstellung des zusammengebrochenen Staates – wurden seine sozialen Ziele deutlich.

Die Anführer des Aufstandes konnten die Bauernfrage nicht ignorieren und mussten diesen mehr als die zaristische Administration bieten. Und obwohl der Aufstand scheiterte, war die russische Macht gezwungen, die Bodenreform zu unterstützen sowie bessere Lebensbedingungen für litauische Bauern und dadurch eine soziale Stütze ihrer Politik gegen den rebellierenden Adel zu schaffen. Doch die Niederschlagung des Aufstands von 1863 war ein großer Schlag gegen die traditionelle Kraft der litauischen Gesellschaft, den Adel. Die Opfer des Kampfes, die Emigration in den Westen, Verbannung in den Osten, Konfiszierung der Höfe, Russifizierung der Kultur – all dies hatte die politische Stimmung verändert. Je zahlreicher die Beteiligung der Bauern wurde und je mehr die Intelligenz in den Vordergrund trat, desto schwächer wurde die Adelsposition. Tatsächlich gab es zu dieser Zeit im Leben Litauens einen regelrechten Bruch.

In der weiteren Entwicklung der Ereignisse kristallisierten sich neue politische und kulturelle Bestrebungen des litauischen Volkes heraus, die Ende des Jahrhunderts die Form einer mächtigen Nationalbewegung annahmen. Nachdem der Adel das Kampffeld fast verlassen hatte, bildete die neue Generation der Intelligenz, die aus von der Leibeigenschaft befreiten Bauern heranwuchs, den Schwerpunkt dieser Bewegung.

Die Nationalbewegung, die mit der Sorge um die Erhaltung der Muttersprache begann, breitete sich aus und wurde immer stärker. Zuerst richtete sie sich gegen die Russifizierungspolitik und das Aufdrängen des orthodoxen Glaubens und verstärkte sich besonders nach dem Aufstand von 1863. Seit Beginn der achtziger Jahre beobachtete man im Kampf für die nationale Presse, für die Schulbildung, für die allgemeine Verbreitung des Nationalbewußtseins einen qualitativen Sprung, wofür auch die Gründung der illegalen Presse charakteristisch ist.

Gerade zu dieser Zeit begann man in Ostpreußen mit der Herausgabe der litauischen Zeitschrift „Aušra“ (Morgenröte) (1883–1886), später wird von litauischen Studenten in Warschau die Zeitschrift „Varpas“ (Die Glocke) (1889–1905) gegründet. Diese Ausgaben einten nicht nur die litau­ische Intelligenz, sondern begünstigten die Verbreitung litauischen Kulturlebens und brachten eine neue Tendenz hervor – eine eindeutige Abgrenzung der litauischen von den Zielen der polnischen Nationalbewegung und den Traditionen der Republik der zwei Nationen.

Die litauische Nationalbewegung erzielte mit ihrer illegalen kulturellen Tätigkeit bedeutsame kulturelle Erfolge; die litauische Kultur erreichte ein höheres Niveau und konnte die kulturellen Grundbedürfnisse eines zivilisierten Volkes befriedigen. Es bildete sich eine vergleichsweise zahlreiche litauische Intelligenz heraus. Die Nationalbewegung beeinflusste immer mehr auch die litauischen Bauern. Es entstanden die ersten mit der litauischen Bewegung verbundenen politischen Parteien. Der Einfluss der polnischen Nationalbewegung und der polnischsprachigen Kultur schwächte merklich ab. Das Jahr 1905 zeigte, dass die Litauer de facto eine ethnopolitische Gemeinschaft geworden waren, die einen territorial-politischen Nationalstatus beanspruchte.

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