Im Nachhinein läßt sich als entscheidendes Faktum erkennen, daß die Morde am Fernsehturm die litauische Nation noch mehr zusammenschweißten und damit zum Scheitern der Pläne der Hintermänner des Militäreinsatzes beitrugen: Hunderttausende gaben den Toten in einer friedlichen Prozession durch Vilnius das letzte Geleit. Damit blieben die Litauer auch in diesem Augenblick ihrer Linie des gewaltfreien Widerstandes treu, das, wie ich glaube, alles entscheidende Moment, welches der Bewegung einen ungeheuren moralischen Impetus verlieh, dem sich auch die Politik des Westens nicht entziehen konnte. Bundeskanzler Kohl betonte gegenüber Gorbatschow die Bestimmungen der KSZE-Schlußakte und sprach vom Prinzip der freien Selbstbestimmung, das Litauen nicht vorenthalten werden dürfe. Obwohl keine diplomatischen Beziehungen existierten, wurden nun litauische Politiker in Bonn von Vertretern aller Parteien empfangen. Im Bundestag gründete sich ein Freundeskreis Litauens, der rund 100 Parlamentarier umfaßte. Auch die bundesdeutschen Medien berichteten regelmäßig über die Lage im Baltikum. Ohne den deutschen Beitrag überbewerten zu wollen, kann immerhin festgehalten werden, daß die Bundesrepublik, wenn auch vorsichtig und zögernd, eine gewisse Schutzfunktion erfüllte. Der mißlungene Moskauer Putsch im August 1991 brachte dann die relativ rasche diplomatische Anerkennung der baltischen Staaten und beendete eine Entwicklung der Umorientierung der deutschen Politik, die im Januar 1991 ihren Anfang genommen hatte.

Aus deutscher Sicht, so mein kurzes Fazit, ist die Zäsur des Jahres 1945 überdeutlich zu erkennen. Für die litauische Seite jedoch kann dieses Jahr nur als relativer Einschnitt gesehen werden. Sicherlich endete mit ihm das direkte Nebeneinander von Deutschen und Litauern, das Aneinandergrenzen zweier Staaten, das, wie ich gezeigt zu haben glaube, nicht immer positive Auswirkungen für Litauen gehabt hat, aber über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinweg galt und gilt Deutschland als europäische Großmacht, die ein besonderes litauisches Interesse hervorruft. Heute hofft man im positiven Sinn auf eine deutsche ‚Expansion‘, und zwar im wirtschaftlichen Bereich! Daneben existiert eine zweite Kontinuitätslinie, die mit den Worten des litauischen Historikers Alfonsas Eidintas folgendermaßen lautet: „Je demokratischer der Staatsaufbau in Deutschland war, umso stabiler und sicherer war die Lage Litauens.“ (14) Wollen wir für beide Staaten hoffen, daß dieses Axiom auch in Zukunft seine Gültigkeit unter Beweis stellt.

(14) Zit. nach Alfonsas Eidintas: Deutschland und die Staatlichkeit Litauens im 20. Jahrhundert, in: Nordost-Archiv 1, 1992, S.39.

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Litauen.info bedankt sich bei Herrn Dr. Joachim Tauber und beim Nordost-Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e.V. (IKGN e.V.) für die Verfügungstellung dieses Berichts.

Anmerkung:
Natürlich hören mit dem Jahr 1993 die deutsch-litauischen Beziehungen nicht auf. Wir werden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen und Einzelpersonen versuchen, die Lücke bis zum ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in absehbarer Zeit zu schliessen.

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